Kopf schlägt Angst

Andrea Klimova
Andrea KlimovaSpecialisterne
  • Drucken

Porträt. Andrea Klimova ist hochintelligent und Autistin. Ihr Verstand leitete sie, trotz Andersseins einen Platz in der Arbeitswelt zu finden. Ihr Rezept: „Denken statt in Emotionen versinken.“

Den Titel dieses Artikels wird Andrea Klimova (49) nicht mögen. Mit Metaphern – Köpfe schlagen nicht – können Autisten nicht viel anfangen. Auch nicht mit Ironie oder Zynismus. Sie verstehen und meinen wörtlich genau das, was sie hören oder sagen. Sie sind wunderbar ehrlich.

Mit dieser ungeschönten Ehrlichkeit erzählt die gebürtige Slowakin ihre Geschichte. Klimova hatte ein Handicap zu überwinden und tat es mit Willenskraft und klarer, logischer Konsequenz. Ein Denkanstoß für alle, die sich coronabedingt neu erfinden müssen – ganz ohne Handicap.

Sie wusste immer schon, sagt Klimova, „dass etwas mit mir nicht stimmt“. Die anderen Kinder stritten und prügelten sich, die Mädchen lachten die Buben aus, „ich verstand das nicht“. Später in der Schule wunderte sie sich, warum sich die anderen Kinder mit dem Rechnen so schwertaten. Sie löste jede Aufgabe im Kopf, konnte aber nicht sagen, wie.

Schneller als die anderen

Die HTL war eine Qual, so einfach, „so fad“. Ihre Noten waren super, aber es kostete unendliche Anstrengung, im Unterricht Aufmerksamkeit vorzutäuschen. Wieso brauchten die anderen so lang? Es fiel ihr schwer, stillzusitzen. Nicht einmal ein Buch durfte sie nebenbei lesen.

Später, im Job, wusste sie bereits, dass sie sich auf ihren Verstand verlassen konnte. Im Siemens-Callcenter fand sie es „super“. Kopfhörer auf, Fall abschließen, dokumentieren, nächster Fall. Das echte Leben war mühsamer, „da wollen die Leute Kaffee trinken und plaudern. Für mich ergibt das keinen Sinn.“

Am liebsten hätte sie die Kopfhörer den ganzen Tag getragen. Sie sperrten den Lärm aus, der ihr Angst machte, die anstrengenden Gespräche, die unterschiedlichen Stimmen. Die Kopfhörer schenkten ihr Ruhe.

Zur Person

Andrea Klimova (49) wurde mit dem Asperger-Syndrom geboren, einer schwächeren Ausprägung im Autismusspektrum. Wie viele Autisten ist sie hochintelligent und hat eine hoch ausgeprägte Inselbegabung für analytische, rationale Tätigkeiten. Die typischen Schwierigkeiten bei Sozialem und Emotionalem kompensiert sie intellektuell. Weil das viel Kraft kostet, brauchen Autisten ein ruhiges und geschütztes Umfeld.
https://at.specialisterne.com

Als die Kinder kamen – Klimovas Tochter ist 19, der Sohn 13 Jahre alt – musste mehr Geld her. „Ich war die Beste im Callcenter, bei Reports doppelt so schnell wie jeder andere. Aber zuerst wusste ich nicht, was ich daraus machen sollte.“ Ein paar Bücher später war klar: Teamleiter werden, nur dann gab es mehr Geld. Sie las alles zu Führung und Motivation, lernte, Gefühlsregungen in Gesichtern zu lesen – „das fiel mir sehr schwer“ – und bekam beim Mitbewerber Dell sofort einen besseren Job. „Ich habe verstanden, dass man nur in einer anderen Firma mehr Geld bekommt. Nie in der eigenen.“

Als ihre Tochter sechs Jahre alt war, wurde bei ihr Autismus diagnostiziert. „Da wusste ich endlich, warum auch ich anders bin.“ Nachlesen, analysieren, lernen: Immer besser beherrschte die Mutter das Spiel mit den „Masken“, die ihr soziales und Geschäftsleben verlangten. Sie kletterte, inzwischen bei AT&T, bis ins Management hinauf. Doch das ständige Verstellen forderte seinen Tribut. „Abends bin ich wie tot ins Bett gefallen. Ich war keine Sekunde mehr ich selbst. Immer nur Maske.“

Wieder analysierte sie die Lage, nüchtern und sachlich. Was kostet die meiste Energie, was beunruhigt am meisten, was laugt aus? Es waren nicht die sachlichen, es waren die sozialen Anforderungen des Managements. Doch welche Alternativen hatte sie?

Maske ab

Ein intelligenter Mensch sucht sich Hilfe, wenn er nicht weiterweiß. Klimova googelte und fand das Social Enterprise Specialisterne, das Menschen im Autismus-Spektrum in Jobs vermittelt, die ihren besonderen Stärken entsprechen. Oft sind das Jobs in IT, Qualitätssicherung, Dateneingabe und -kontrolle.

Klimova optimiert heute seit 15 Monaten und 9 Tagen (das rechnet sie im Kopf) die technische Dokumentation beim Pharmaunternehmen Takeda. Ihre Aufgabe als „Senior Quality Site Engineering Administrator“: Struktur in einige Hunderttausend Seiten bringen und sie digital zugänglich machen. Im Einzelbüro und mit Kopfhörern. „Es geht mir toll. So ausgeglichen war ich noch nie.“

Die Coronazeit toppte das noch: „Für uns Autisten ist Home-Office superideal, da haben wir unsere Ruhe. Und die Leute sind offener für schriftliche Kommunikation.“ Sogar was im Normalbetrieb liegen blieb, arbeitet sie jetzt störungsfrei ab.

Ende gut, alles gut also. Einen Gedanken hat die Analytikerin noch für „normale“ Menschen: „Nicht so sehr mit Emotionen beschäftigen. Da fällt man hinein und ist zu nichts mehr zu gebrauchen.“

Schwerpunkt: Gute Nachrichten aus der Krise

Man kann das Glück nicht erzwingen, und man kann schwierige Situationen nicht schönreden. Aber man kann in Krisen genau hinsehen und entdecken, was gelingt, was Erfolg hat, was hilft und was heilt. Dieser Schwerpunkt ist der positiven Kraft gewidmet, die aus dem Bemühen um einen Weg aus der Krise entsteht.

>> zum Schwerpunkt "Gute Nachrichten aus der Krise"

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2020)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.