Quergeschrieben

„Nach Corona“: Warum Reformen nicht verschoben werden dürfen

Eine paradoxe Intervention im System Österreich: Schwachstellen sollten beseitigt werden, bevor der Unmut der Bevölkerung zu groß wird.

Wenn etwas paradox klingt, ist es das auch. Auf die gegenwärtige Situation in Österreich bezogen heißt das: Die Virus- und Wirtschaftskrise hat in den vergangenen Monaten Schwächen im System für alle deutlich sichtbar bloßgelegt. Sollten sie nicht beseitigt werden, kann der Druck auf Reformen so stark werden, dass es letztlich doch zu Veränderungen wird kommen müssen. Dann wird man – politisch gesehen – der Krise noch dankbar sein.

Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

>>> Mehr aus der Rubrik „Quergeschrieben“



Vor allem hat sie die Schwäche der Institutionen wie Justiz, Verwaltung, Parlamentarismus im Umgang mit der Rechtsstaatlichkeit und bei Stellenwert sowie Funktionstüchtigkeit von Interessenvertretungen entlarvt. Auch hat sie den Schlendrian sichtbar gemacht, mit dem seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten Veränderungen aufgeschoben worden oder an der Mentalität des „Mach ma net“ oder „Kann man nicht“ gescheitert sind.

Beispiele gefällig? Um beim letzten Punkt anzufangen: Digitale Vernetzungen im Gesundheitswesen, Apotheken inklusive, seien, so heißt es, seit zehn Jahren diskutiert worden. Plötzlich aber war sie binnen kürzester Zeit möglich. Oder die Digitalisierung der Schulen. Ein Zwölf-Punkte-Plan vor Jahren noch in der Zeit der SPÖ-ÖVP-Koalition; ein Acht-Punkte-Plan vor zwei Wochen, vorgestellt von Bundeskanzler, Bildungsminister und Wirtschaftsministerin. Plötzlich sind 200 Millionen Euro vorhanden. Die Schließung der Schulen, die Mühen des Home-Schooling, die stärker sichtbaren sozialen Ungerechtigkeiten könnten es möglich machen. Optimistisch kann man sagen: Werden es möglich machen.

Oder die Justiz: Im September 2019 hatte Interimsminister Clemens Jabloner mit der Aussage schockiert, die Justiz sterbe einen „langsamen Tod“. Mehr als Schulterzucken war dann nicht. In der Krise tauchten die Schwachstellen wieder auf: mangelnde Digitalisierung, krasser Personalmangel, unerträglicher Rückstau bei schon bisher überlangen Verfahren. Da war im elektronischen Zeitalter einiges versäumt worden.
Gut, von all dem Unvorhersehbaren und Einmaligen waren offenbar alle überfordert. Heute weiß ein Gutteil der Bevölkerung, dass zwischen den von der Regierung täglich mehrmals verkündeten Hilfeleistungen für eine geschockte Bevölkerung und der Durchführung viel Luft nach oben existiert – in der praktischen Ausführung wie im Auftreten Hilfesuchenden gegenüber. Jede Regierung, auch diese, sollte sich den grassierenden Unmut über bürokratische, oft nicht verständliche Hürden zu Herzen nehmen. Jüngst meinte ein Experte zum Unterschied der Behandlung von Antragstellern zwischen der Schweiz und Österreich: Die Verwaltung in der Schweiz vertraue ihren Bürgern grundsätzlich, jene in Österreich misstraue ihnen – grundsätzlich. Vielleicht wird der Leidensdruck durch dieses Misstrauen in Österreich so groß geworden sein, dass es zu einem Umdenken kommen muss.

Zum Umgang mit der Rechtsstaatlichkeit: Es sollte nie wieder vorkommen, dass sich die Bevölkerung bei Anordnungen veräppelt fühlt, die so nie eine Rechtsgrundlage hatten. Es sollte nie mehr genügen, bei Auffliegen eines Schwindels zu sagen: Wir haben es ja nur gut gemeint, wie bei der Verkündigung der Ausgangsbeschränkungen. Ohne Krise wäre vielleicht kaum jemand auf die Idee gekommen, dass dies möglich sein kann.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.