Leitartikel

Warum Putins Referendum die russische Verfassung entwertet

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Mit seinem Verfassungsmanöver sichert sich Kreml-Chef Wladimir Putin den Verbleib an der Macht. Die autoritäre Gangart Russlands verstärkt sich.

In einem Interview gewährte Wladimir Putin unlängst Einblick in die Psyche eines alternden Potentaten. Ein Journalist des russischen Staatsfernsehens fragte den Präsidenten, warum das Verfassungs-referendum ausgerechnet jetzt stattfinde. Die Frage des Journalisten beantwortete Putin so: Würde das Grundgesetz nicht jetzt erneuert, würde bald „anstelle der normalen Arbeit auf vielen Regierungsebenen die Suche nach möglichen Nachfolgern beginnen“. Und dann forderte er: „Wir müssen arbeiten, keine Nachfolger suchen.“ Damit meinte er natürlich seine eigene Nachfolge.

Tatsächlich hatten viele Beobachter Zeitpunkt und Tempo der Putin'schen „Spezialoperation“ verblüfft. Wir erinnern uns: Aus heiterem Himmel hatte der Kreml-Chef im Jänner bei seiner alljährlichen Rede zur Lage der Nation die Anpassung des Grundgesetzes an die heutige politische Realität gefordert, danach die Regierung des glücklosen Premiers Dmitrij Medwedjew entlassen und einen politisch farblosen, aber auch politisch unbefleckten Ministerpräsidenten eingesetzt. Ein paar Wochen später bat eine rührige ältere Parlamentarierin Putin in der Duma nach seinem Verbleib an der Macht und schlug die entsprechende Änderung vor. Eine unsägliche Inszenierung. Wenig später war alles beschlossen.

Warum aber die Eile für die angeblich so dringende Erneuerung Russlands, die sich größtenteils in Symbolpolitik erschöpft, den Bürgern wenig bringt, aber Putin als Herrscher bis ins hohe Alter abonniert? Die heraufziehende Coronakrise und der Absturz des Ölpreises wurden als Auslöser für Putins Showdown genannt. Womöglich war es so. Vielleicht war es aber auch viel einfacher. Zurück zur Putin'schen Psyche.

Für jemanden wie den machtbewussten und misstrauischen Präsidenten müssen die Monate nach seiner jüngsten Wiederwahl im März 2018 eine grässliche Zeit gewesen sein. Seit er wiedergewählt wurde, galt er wegen des Amtsendes 2024 als „lahme Ente“. In seinen Handlungen sah man einen Anflug von Schwäche, nicht Stärke. In seinen Auftritten wirkte er gelangweilt und abwesend. Dachte er etwa gar über die Pension nach? Ständig waren in den Medien neue Mutmaßungen über mögliche Nachfolger und die Matrix des Machttransfers zu lesen. Mehr noch als die Medienberichte dürfte ihn die Unruhe in den eigenen Reihen beunruhigt haben. Da spitzte manch einer auf den Spitzenposten. Putin hat das nicht vertragen. Und hat in alter KGB-Manier zurückgeschlagen. Selbst wenn er seine Amtszeit nicht bis 2036 aussitzt, beendete er auf einen Schlag alle Ambitionen von anderen.

Auch anderswo fällt es alternden Politikern schwer, abzutreten. Sie fühlen sich unersetzlich, als Garant des von ihnen geschaffenen Systems. In Russland kommt die Unsicherheit vor der Zukunft hinzu: Die Angst, dass sich das System mit aller Härte gegen seinen Gründer wenden könnte.

Doch der Unterschied zwischen einem demokratischen und einem autokratischen System ist: Demut vor dem Gesetz. Während anderswo Politiker mit der Endlichkeit ihres Wirkens leben müssen, biegt sich der Kreml seine Verfassung zurecht. Das Papier ist wenig wert, was zählt, ist der Wille der Mächtigen. Die rein symbolische Abstimmung ist ein Betrug an den russischen Bürgern. Kein Wunder, dass viele wenig Lust spüren, sich an dem Referendum zu beteiligen. Bisher setzte das System immer auch auf die Zustimmung der Russen. Doch um sich dieser zu versichern, sind immer mehr Anstrengungen, Tricksereien und Manipulationen nötig.
Putins Verfassungsmanöver nimmt mit dem unwürdigen Referendum seinen Abschluss. Der Prozess ist auch Ausdruck einer zunehmend autoritären Ausrichtung der Staatsmacht. An deren Spitze steht ein Kreml-Chef, der sich in historische Studien über den Zweiten Weltkrieg vergräbt, jedoch die gegenwärtige Gefahr von Epidemien auf die leichte Schulter nimmt. „Großväterchen“, so nennen ihn manche bereits. Der gerontokratische Putinismus gäbe Anlass für Witze – wäre er nicht eigentlich zum Verzweifeln.

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