Alles eine Machtfrage

Der Kosovo ist ein ökonomisch nicht lebensfähiges Gebilde.

Welches völkerrechtliche Prinzip ist wichtiger: das Selbstbestimmungsrecht der Völker oder das Prinzip der territorialen Integrität von Staaten? Vor dieser Frage stand jüngst der IGH im Falle seines Kosovo-Gutachtens. Ganz abgesehen vom konkreten Inhalt dieses Gutachtens zeigt sich im Falle des Kosovo, dass das Völkerrecht eben wenig mit durchsetzbarem und prinzipiell begründbarem Recht zu tun hat, sondern eine reine Machtfrage ist.

Warum? Bei der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo vor wenigen Jahren bezog man sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das den kosovarischen Albanern gewährt werden müsse, und auch darauf, dass das ehemalige serbische Regime an den Kosovo-Albanern im vergangenen Krieg Menschenrechtsverbrechen begangen habe. Daher müsse man den Kosovaren die Unabhängigkeit und ihr Selbstbestimmungsrecht gewähren. Die territoriale Integrität des Staates Serbien wurde dabei zweifellos missachtet.

Allgemein bekannt ist dabei natürlich, dass die Unabhängigkeit des Kosovo, insbesondere auf US-amerikanischen Druck, von den Europäern nolens volens akzeptiert wurde. Die Tatsache, dass damit ein ökonomisch völlig abhängiges, nicht lebensfähiges Gebilde entstand, und dass dieses womöglich der erste islamische Staat auf europäischem Boden sein würde, wurde dabei ignoriert.

Muslimischer Staat in Europa?

Nun will zwar Serbien neue Statusverhandlungen, die es kaum bekommen wird und die auch sinnlos wären, da die Unabhängigkeit des Kosovo nicht wirklich rückgängig gemacht werden kann. In Wahrheit geht es aber um den kompakt serbisch besiedelten Norden des Kosovo, für den man nun nach demselben Muster die beiden zitierten Völkerrechtsprinzipien anwenden müsste. Die Kosovo-Serben dürfen sehr wohl auch auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker pochen. Und wenn man den Kosovo schon als souveränen Staat betrachtet, dann kann dessen territoriale Integrität auch keine heilige Kuh sein, da er selbst ja unter Missachtung dieses Prinzips entstanden ist. Auf gut Deutsch: Die Serben werden den Kompromiss eingehen müssen, dass sie nur die serbisch besiedelten Gebiete erhalten und die Abspaltung des Kosovo als solches akzeptieren.

Und dann stellt sich die große Frage für die EU, ob dieses albanisch besiedelte Splitterterritorium auf Dauer lebensfähig ist, oder ob man es als reines EU-Protektorat für alle Zukunft wird durchfüttern müssen? Oder aber man entschließt sich dazu, das Prinzip des Selbstbestimmungsrecht der Völker auf die Albaner insgesamt auszuweiten und zu überprüfen, ob es nicht sinnvoll wäre, einen albanischen Gesamtstaat unter Einbeziehung des Kosovo auf dem Westbalkan zu schaffen. Und wenn die Europäer das Ganze schon finanzieren, dann sollte im übergeordneten geopolitischen Sinne auch das allgemeineuropäische Interesse über die Prinzipien des Völkerrechts hinaus im Auge behalten werden und nicht irgendwelche geopolitischen Nützlichkeitserwägungen der US-Amerikaner oder gar die allfälligen religiösen Expansionsgelüste der islamischen Welt.

Die neue Ordnung des Westbalkans und seine Einbindung in die europäische Integration werden den Prinzipien des Völkerrechts aber auch der pragmatischen Vernunft gehorchen müssen. Und sie dürfen den Interessen und dem Stolz keines der größeren Völker dieser Großregion zuwiderlaufen. Serbien wird seinen Amselfeld-Mythos historisieren müssen. Und die muslimischen Kosovaren werden akzeptieren müssen, dass sie nicht souveräne islamische Republik von Gnaden der Amerikaner und auf Kosten der Europäer spielen können.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2010)

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