Bilanzskandal

Bei Wirecard beginnt das Aufräumen

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100 große Kunden standen 2017 für einen Großteil des Umsatzes. Die US-Tochter stellt sich selbst zum Verkauf. Deutsche Aufseher fordern einheitliche Regeln für Zahlungsabwickler.

Beim zusammengebrochenen Zahlungsabwickler Wirecard haben die Aufräumarbeiten begonnen. In den USA stellte sich eine Konzerntochter selbst zum Verkauf, Konkurrenten bringen sich für die Übernahme von Kunden oder ganzen Sparten in Stellung. Die "Financial Times" erhob neue Vorwürfe in dem Skandal, den sie selbst mit aufgedeckt hatte. Auf Wirecard und seinen Bilanzprüfer EY rollt unterdessen eine riesige Prozesswelle zu.

Der Aufsichtsrat von Wirecard hat unterdessen den Anstellungsvertrag des früheren Vorstandschefs Markus Braun außerordentlich gekündigt. Braun war wegen des Skandals am 19. Juni zurückgetreten. Wenige Tage später wurde er festgenommen, kam dann aber gegen Kaution wieder auf freien Fuß. Im Mittelpunkt des Skandals stehen 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten, die vermutlich nicht existieren.

Der Zahlungsdienstleister hatte am Donnerstag Insolvenz angemeldet, nachdem in der Bilanz für 2019 ein Loch von 1,9 Milliarden Euro offenbar wurde. Die Behörden gehen davon aus, dass die Bilanzen mindestens seit 2016 falsch sind und Wirecard Umsatz und Gewinn durch vorgetäuschte Einnahmen aufgebläht hat. Die Zeitung berichtete am Dienstag, das tatsächliche Geschäft von Wirecard habe sich auf weit weniger Kunden gestützt als von der Firma angegeben. 2017 habe Wirecard mehr als die Hälfte des Umsatzes mit nur 100 Kunden erzielt, schrieb die Zeitung unter Verweis auf ein internes Dokument. Insgesamt seien darin 107.000 Kunden aufgelistet gewesen. Wirecard selbst habe 2017 von 33.000 großen und mittelgroßen Händlern und 170.000 Kleinunternehmen als Kunden gesprochen habe. Ein Anwalt von Ex-Wirecard-Chef Markus Braun sagte der Zeitung, die Annahmen der Zeitung basierten auf Informationen, die aus dem Zusammenhang gerissen seien.

Kritische Fragen an BaFin-Chef

Obwohl seit Jahren immer wieder Vorwürfe der Bilanzmanipulation aufkamen, brach das Kartenhaus erst in den vergangenen Wochen zusammen. Entsprechend groß ist die Kritik an Aufsehern, Bilanzprüfern und Börse. Am Mittwoch muss sich BaFin-Chef Felix Hufeld im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages den kritischen Fragen der Abgeordneten stellen.

Als eine Konsequenz aus der Pleite werden nun Rufe nach einheitlichen Regeln für die Zahlungsabwickler laut. "Einer der Schlüsselaspekte wird sein, wie die unterschiedlichen Marktteilnehmer in das System eingebunden werden können", sagte der Präsident der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), Augustin Carstens, am Dienstag. Der Zahlungsverkehr lag früher traditionell in der Hand von Banken, mittlerweile gibt es aber immer mehr IT-Finanzfirmen (Fintechs), die solche Dienstleistungen anbieten. "Was auf jeden Fall ein Defizit ist, ist, dass Unternehmen, die vergleichbare Zahlungsdienstleistungen anbieten, sehr unterschiedlich beaufsichtigt werden", sagte Finanzstaatssekretär Jörg Kukies am Montagabend und forderte einheitliche und transparente Vorgaben.

Die US-Tochter Wirecard North America sucht mit Hilfe einer Investmentbank einen neuen Eigentümer, wie sie in der Nacht zum Dienstag mitteilte. Wirecard North America Inc sei eine separate rechtliche und geschäftliche Einheit, trage sich selbst und sei "im Wesentlichen unabhängig" von der Pleite gegangenen Mutterfirma in Aschheim bei München. Wirecard hatte die frühere Citi Prepaid Card Services 2016 übernommen.

Dass sich die US-Tochter selbst ins Schaufenster stellt, könnte nun der Auftakt für einen Ausverkauf sein. Auch an deutschen Töchtern gibt es bereits Interesse - zumindest an Kunden und Mitarbeitern. Das Berliner Startup Solarisbank hob den Finger. "Wir verstehen das Geschäft wahrscheinlich besser als jeder andere im Markt", sagte Solarisbank-Chef Roland Folz zu Reuters. "Gern sprechen wir mit einigen der Kunden und vielleicht auch Angestellten und schauen, wie wir ihnen mit unserer Plattform helfen können." Vergangene Woche hatte schon der Wirecard-Rivale Heidelpay Interesse an Kunden und Mitarbeitern des insolventen Dax-Konzerns geäußert.

Klagen in Vorbereitung

Die Anwaltskanzlei Tilp weitet ihre Schadensersatzklage gegen Wirecard auf den Wirtschaftsprüfer EY, Ex-Chef Braun, den ehemaligen Vorstand Jan Marsalek sowie den noch amtierenden Finanzchef Alexander von Knoop aus. "Vom zumindest bedingt vorsätzlichen Verhalten der neuen Beklagten sind wir überzeugt", erklärte Rechtsanwalt Andreas Tilp. EY hat den Ball bei Wirecard zwar ins Rollen gebracht, weil sie bei der Durchsicht von Dokumenten für den Jahresabschluss 2019 auf Unregelmäßigkeiten gestoßen waren. Den Wirtschaftsprüfern wird aber vorgeworfen, nicht schon früher Alarm geschlagen zu haben - sie prüfen die Wirecard-Bilanzen seit vielen Jahren.

Auch Rechtsanwalt Klaus Nieding von der Kanzlei Nieding + Barth brachte sich in Stellung. "Wir bereiten derzeit im Auftrag von 41 institutionellen Investoren und mehr als 1100 Privatanlegern Klagen gegen Wirecard, EY und die Bundesrepublik Deutschland vor", sagte er zu Reuters.

In Österreich wird der Wirecard-Fall wohl ebenfalls ein Fall für die Strafverfolger. Bei der Wiener Staatsanwaltschaft ging eine Anzeige wegen des Verdachts der Marktmanipulation und des schweren Betrugs gegen Braun und Marsalek ein, wie ein Behördensprecher am Dienstag bestätigte.

(APA/dpa)

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