"Wumms" oder Strohfeuer?

Der Kampf gegen die Krise im deutschen Einkaufsregal

In Berliner Supermarkt-Filialen gilt die Mundschutzpflicht - und seit Mittwoch auch ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz.
In Berliner Supermarkt-Filialen gilt die Mundschutzpflicht - und seit Mittwoch auch ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz. REUTERS
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Am 1. Juli senkte Deutschland die Mehrwertsteuer. „Die Presse" warf einen Blick in die Berliner Regale und sah sich in einem Autohaus um. Über billigeres Billigfleisch und einen großen Haken beim Autokauf.

Berlin. „Billiger“, „Billiger“, „Billiger!“ schreien die roten Preisschilder in einer Berliner Lidl-Filiale, durch die maskierte Kunden – es gilt hier noch Mundschutzpflicht – ihre Einkaufswagen schieben. Kurzer Halt vor jenem Regal, in dem sich das Symbol der Coronakrise stapelt. Also das Klopapier, einst gehamstert in Wien wie in Berlin. Zehn Rollen, dreilagig, kosten in der Filiale in Prenzlauer Berg nun 2,88 statt 2,95 Euro. Auch deutsches Billigfleisch – zurzeit sozusagen in aller Munde – ist noch billiger. 500 Gramm gehacktes, also faschiertes Schwein: 2,44 statt 2,49 Euro. Und ein Energydrink bettelt am Eingang mit einem Spottpreis um seinen Erwerb. Bisher kostete er 39, fortan 38 Cent. Eine „8“ als letzte Ziffer: Der Deutsche nennt das einen sehr „krummen Preis“.

Die großen Lebensmittelketten haben schon vor Tagen begonnen, die Senkung der Mehrwertsteuer von 19 auf 16 und von sieben auf fünf Prozent mindestens weiterzugeben. Offiziell gelten die niedrigeren Steuersätze seit gestern und bis Jahresende. Sie bilden ein Herzstück des Konjunkturpakets und sollen helfen, Deutschland mit „Wumms“ aus der Krise zu führen. Dass die Senkung just am 1. Juli in Kraft trat, ist eine historische Pointe, denn am selben Tag vor 30 Jahren wurde in der DDR, also auch hier in Ostberlin, die D-Mark eingeführt und damit ein Kaufrausch entfacht. Schattenseite damals: Die harte Währung gab vielen angeschlagenen DDR-Betrieben den Todesstoß. Aber die Demonstranten wollten es so. Parole: „Kommt die D-Mark, bleiben wir hier, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr.“

Verglichen mit der Reform von damals ist die von heute allenfalls Reförmchen: Wer Lebensmittel um 30 Euro kauft, erspart sich rechnerisch 56 Cent. Aber man muss ja dorthin, wo mit großen Beträgen hantiert wird, heißt es. Dort sollen vorgezogene Anschaffungen den Konsum anschieben.

„Das nutzt mir nichts“

Also Fahrt zum nächsten Autohändler. Marcel, 43, wartet draußen im Regen. Er will einen Neuwagen kaufen. Wegen der Mehrwertsteuersenkung? „Überhaupt nicht. Die bringt mir gar nichts“, sagt er. Sein VW e-up würde erst 2021 geliefert. Weil nicht das Bestell-, sondern das Lieferdatum zählt, müsste er, Stand heute, wieder den alten Steuersatz von 19 Prozent bezahlen. Wer sein Auto (oder seine Küche etc.) dagegen im Jänner, noch vor der Coronakrise, gekauft hat, und in diesen Tagen erhält, zahlt indes unverhofft weniger. „Viele Kunden wissen das nicht“, erzählt drinnen ein Autoverkäufer. Sie hätten sich deshalb im Juni mit Käufen zurückgehalten. Ein großes Missverständnis.

Der Autohändler in Berlin-Pankow gibt die Steuersenkung eins zu eins weiter. Die EDV-Systeme haben sie zwar nicht umgestellt. Das wäre „ein mordsmäßiger Aufwand“. Aber auf den Verkaufsschildern stehen der alte und der neue Preis. Der ausgestellte VW Passat kostet 63.311,87 mit neuem und 64.964,99 Euro mit altem Steuersatz. Ein Verkaufsargument? Der Verkäufer hat Zweifel. „Die Hersteller müssten noch einen Rabatt oben draufpacken, meint er. So wie sie das damals bei der Abwrackprämie getan haben. Den 43-jährigen Marcel hat übrigens sehr wohl das Konjunkturpaket ins Autohaus gelockt, aber nicht die Steuersenkung, sondern die Erhöhung der Prämie für Elektroautos. 9000 Euro spart er durch staatliche und private Förderungen, wurde ihm ausgerechnet.

Auch in einer Glaserei in der Schwedter Straße stellten sie die Steuersätze um. Hier fiel das leicht. „Dauerte nur eineinhalb Minuten“, erzählt ein Mitarbeiter. Die Steuersenkung tangiert sie auch sonst kaum. „Die Auftragsbücher waren immer voll. Die anderen Handwerker hier werden Ihnen dasselbe erzählen.“ Man kann also nur hoffen, dass der Steuersparer noch einen Termin 2020 findet.

Andere kleine Einzelhändler stöhnen. Der Bäcker ums Eck fragt rhetorisch, ob er jetzt „Brötchen“ um 24 statt 25 Cent verkaufen soll. Der Schreibwarenhändler in der Kastanienallee grübelt, wie er die Senkung weitergeben kann. Vermutlich gewährt er Rabatt an der Kasse. Alle knapp 1000 Waren neu zu etikettieren wegen Cent-Beträgen kommt nicht infrage. Ein Modegeschäft hundert Meter weiter weist mit einem Zettel darauf hin, dass an der Kassa Steuerrabatt gewährt wird. Im Buchladen tut sich indes nichts. Die Bruttopreise bleiben gleich. Die Verlage wollen es so. Wobei Bücher hier ohnehin vergleichsweise billig sind. Es gilt der ermäßigte Steuersatz. Literatur als Grundnahrungsmittel sozusagen.

Nur ein Strohfeuer?

20 Mrd. Euro soll die halbjährige Steuersenkung den Staat kosten. Ökonomen zweifeln an ihrem Nutzen. Alles nur ein Strohfeuer? Das Ifo-Institut schätzt, dass die Maßnahme das BIP um magere 0,2 Prozentpunkte anhebt. Einer GfK-Studie zufolge erwägt aber immerhin jeder Dritte, nun eine Neuanschaffung vorzuziehen. Hoch im Kurs: Haushaltsgeräte. Denn bei den großen Elektroketten gibt es jetzt auch sehr „krumme Preise“.

In Prenzlauer Berg ist die Steuersenkung den Befragten an diesem Tag aber hörbar gleichgültig. Nur ein junges Paar, die Frau schwanger, sagt: „Steuersenkung? Vielleicht schauen wir zu Ikea.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2020)

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