Die Zeit, als Europa technologisch übermächtig wurde

Viele Erfindungen, deren Prinzipien auch heute noch gültig und wichtig sind, wurden bereits im Mittelalter gemacht.

Europa war nicht immer die weitestentwickelte Region der Erde. „Das Kalifenreich und vor allem China waren im Frühmittelalter Europa in vieler Hinsicht technisch überlegen“, stellt der Wiener Historiker Michael Mitterauer in seinem mittlerweile als Klassiker gefeierten Buch „Warum Europa?“ fest.

Heute ist das anders – und diese Entwicklung ist nicht nur eine Folge der vielen neuzeitlichen Entdeckungen, sondern setzte bereits im Mittelalter ein. Als Leitinnovation gilt gemeinhin das Wasserrad. Genauer: das vertikal stehende „oberschlächtige“ Mühlrad (das durch Zellengefäße das Gewicht des Wassers nutzt). Wasserräder kannte man auch schon in der Antike, doch diese waren in den meisten Fällen liegend angeordnet.

Die breite Nutzung der Kraft des Wassers – anstelle jener von Sklaven in der Antike – leitete ab dem 9.Jahrhundert einen Umbau der Wirtschaft ein. Nicht nur Getreide wurde vermahlen – etwa im Salzburger Mülln, das laut dem Linzer Wirtschaftshistoriker Roman Sandgruber schon seit Ende des 8.Jahrhunderts belegt ist. Die Wasserkraft wurde auch zur Energiequelle für andere Gewerbe, etwa als Gips-, Pulver- oder Erzmühlen, als Walkmühlen für die Tuchproduktion, Hammerwerke für die Metallverarbeitung oder Pumpen im Bergbau.

Hand in Hand geht der Siegeszug des kraftvolleren Antriebs mit einer anderen grundlegenden Innovation: der mittelalterlichen Agrarrevolution. Die Einführung neuer Pflanzen, die Dreifelderwirtschaft, die Einführung des schweren Pflugs sowie neue Anspannsysteme für Zugtiere ermöglichten die Ernährung von mehr Menschen – das brachte Bevölkerungswachstum und eine ungeahnte Expansion der Märkte.

Im Gefolge entwickelten sich zahlreiche Innovationen – viele Dinge wurden zwar in anderen Teilen der Welt erfunden, doch erst die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umstände in Europa ermöglichten deren Ausbreitung und Weiterentwicklung. Die Prinzipien vieler damaliger Innovationen sind bis heute gültig. Die Textilproduktion z.B. profitierte durch die Einführung von Spinnrad und horizontalem Webstuhl. Die Materialbearbeitung wurde durch die Drechselbank revolutioniert. Auch die chemische Technik entwickelte sich: Im 11.Jahrhundert wurde erstmals Wein destilliert, wenig später wurden starke Säuren (Schwefel- und Salpetersäure) entdeckt.

Das Spätmittelalter brachte einen erneuten Innovationsschub: Neben der Bautechnik – damals entstanden die staunenswerten gotischen Kathedralen – wurden Räderuhren oder Brillen erfunden. Und nicht zu vergessen die Kriegstechnik rund um das (chinesische) Schießpulver – auch wenn die ersten Kanonen laut Sandgruber mehr Lärm als Schäden machten.

Dass Technik heute völlig anders aussieht, hat allen voran zwei Gründe: Elektrizität war im Mittelalter unbekannt, und seit der industriellen Revolution werden fossile Energieträger eingesetzt. Fortschritte in den Wissenschaften erlauben zudem einen effizienteren Umgang mit Energie: Im Mittelalter lag der Wirkungsgrad bei zehn Prozent, heute liegt er bei 35 Prozent.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2010)

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