Leitartikel

Führt die Coronakrise direkt in einen neuen Kalten Krieg?

(c) REUTERS (Amr Abdallah Dalsh)
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Die USA haben große Teile des Coronamittels Remdesivir aufgekauft, und die Europäer schäumen und finden das unfair – statt selbst strategisch vorzugehen.

Als in Wien 1848 die Revolution ausbrach und die Bürger auf die Barrikaden stiegen, soll der verdutzte und völlig unfähige Kaiser Ferdinand gefragt haben: „Ja, dürfen s' denn das?“ Ein bisschen fühlt man sich an diese Anekdote erinnert, wenn jetzt die Europäer toben, weil die US-Regierung das Coronamittel Remdesivir quasi vom Markt gekauft hat. Der deutsche Gesundheitsminister, Jens Spahn – ein Neoliberaler vom Scheitel bis zur Sohle – fordert vom US-Konzern Gilead, „dass Deutschland und Europa versorgt werden“. Und die Betonung liegt vermutlich auf „Deutschland“.

Wir befinden uns also wieder einmal in einem globalen Kampf um Ressourcen. Vor 50 Jahren gaben jene den Ton an, die die Hand am Ölhahn hatten. Dann eroberten die Internetgiganten die Wirtschaftswelt. Und nun besitzen offenkundig die Pharma- und Biotech-Konzerne den Schlüssel zum Wohlstand. Europa, so hat man das Gefühl, hinkt in dieser Entwicklung wieder hinterher, weil das Thema nationale Sicherheit bisher wirtschafts- und sozialpolitisch völlig unterbelichtet war.

Amerika ist in diesem Punkt viel weiter. Das hat nichts mit Donald Trumps „America first“-Politik zu tun, sondern vielmehr mit dem schmerzhaften Ereignis 9/11. Damals haben die USA erkannt, dass sie verwundbar sind. Und auch wenn uns die Art und Weise nicht gefällt, die 500.000 Wirkstoffdosen Remdesivir stehen nun den Amerikanern zur Verfügung. Ob sie das nun dürfen oder nicht.

Europa braucht also rasch eine neue strategische Ausrichtung: eine europäische Sicherheitspolitik über die militärischen Agenden hinaus. Eine, die auch wirtschafts- und sozialpolitische Aspekte einbezieht. Allein, dass Europa händeringend um chinesische Schutzmasken betteln musste, zeigte, wie wenig autark wir in strategisch wichtigen Industrien und Bereichen sind.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, dem Sieg über den Kommunismus, war das Thema Sicherheit in Europa plötzlich vom Tisch. Der effiziente Markt organisiert alles von selbst, war die herrschende Ideologie. Und in der Theorie ist das ja alles schön und gut. Aber mit China wuchs eine Wirtschaftsweltmacht heran, die sich um marktwirtschaftliche Theorien wenig schert und staatliche Interessen über alles stellt. Und bei aller berechtigten Kritik an der Regierung Trump, die Amerikaner waren die Einzigen, die sich dagegenstemmten. Aus Gründen der nationalen Sicherheit. Und auch sie pfeifen mittlerweile auf die reine Lehre vom freien Markt.

Das heißt natürlich nicht, dass jetzt jedes Land wieder zum Selbstversorger mutieren soll. Auch österreichische Politiker springen eifrig auf den Zug auf und merken dabei gar nicht, dass sie die gleichen Argumente in den Mund nehmen wie die Brexit-Befürworter einst in Großbritannien oder die Trump-Fans in den USA. Wir brauchen keine Selbstversorgung, sondern Versorgungssicherheit. Das ist nämlich ein riesiger Unterschied.

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari nennt die Selbstversorgerromantik „eine große Katastrophe“. „Wer glaubt, dass nach dem Ende der Epidemie jedes Land zum Selbstversorger werden muss, zieht die falschen Schlüsse“, sagte er jüngst dem „Handelsblatt“.

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