Private Geldflüsse

Es kommt kein Geld mehr nach Hause

Weil in den Entwicklungsländern nicht jeder ein Girokonto hat, laufen Rücküberweisungen häufig über Geldtransferunternehmen wie Western Union.
Weil in den Entwicklungsländern nicht jeder ein Girokonto hat, laufen Rücküberweisungen häufig über Geldtransferunternehmen wie Western Union.REUTERS
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Hunderte Milliarden schicken Migranten jedes Jahr an ihre Familien in der Heimat. In der Coronakrise versiegt dieser lebensnotwendige Geldfluss. Das trifft nicht nur arme Länder, warnen Ökonomen. Auch dem reichen Westen blühe ein gewaltiges Problem.

In den vergangenen Wochen bot sich in einigen Wiener Außenbezirken ein ungewöhnliches Bild: In grelles Orange gekleidet waren hier Menschen als lebende Litfaßsäulen unterwegs. Ihre Botschaft war simpel: „Send your money home!“, drängte der Auftraggeber, ein großer Finanzdienstleister, die ansässigen Migranten.

Nach Schätzungen der Vereinten Nationen leben und arbeiten rund 270 Millionen Menschen in fremden Ländern und schicken jedes Jahr Hunderte Milliarden Euro an ihre Familien in der Heimat. Diese Rücküberweisungen sichern über einer Milliarde Menschen in ärmeren Staaten die Existenz. Doch seit Covid-19 die globale Wirtschaft lahmgelegt hat, bleibt das lebensnotwendige Geld aus dem reichen Westen aus. Das ist nicht nur ein Problem für die Betroffenen, sondern könnte bald auch kritisch für die Gastländer werden, warnen Ökonomen.

Das plötzliche Versiegen des privaten Geldstroms in die ärmeren Länder ist ein neues Phänomen. „Üblicherweise schicken Migranten sogar mehr Geld nach Hause, wenn in ihrer Heimat eine Krise ausbricht“, erklärt Weltbank-Ökonom Dilip Ratha im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. Werden die Hilferufe aus der Heimat lauter, sparen die meisten lieber am eigenen Komfort, als das Geld für ihre Familien zu kürzen. Im Vorjahr floss etwa die stolze Summe von 554 Milliarden US-Dollar (441 Milliarden Euro) an Rücküberweisungen in Entwicklungs- und Schwellenländer. Weit mehr als an Hilfsgeldern oder ausländischen Investitionen hereinkam. Egal, ob bei Naturkatastrophen oder während Finanzkrisen, Migranten sind stets die verlässlichste Einkommensquelle für ihre Herkunftsländer. „Doch dieses Mal ist es anders“, so Ratha.


Simultaner Absturz. Während die Finanzkrise 2009 „nur“ die Wirtschaft der Industrienationen betroffen hatte, stürzt die Coronapandemie reiche und arme Staaten zeitgleich in die Rezession (siehe Artikel rechts). Schon die Konjunkturflaute nach der Finanzkrise sorgte dafür, dass viele Migranten ihre Jobs verloren und deshalb um fünf Prozent weniger Geld nach Hause überweisen konnten. Diesmal dürfte ein Fünftel der Rücküberweisungen ausbleiben, erwartet die Weltbank. Und da niemand wisse, wann die Coronakrise überstanden sein wird, dürfte es vergleichsweise lang dauern, dieses hundert Milliarden Euro große Loch zu stopfen. Die ersten Daten, die aus den betroffenen Ländern gemeldet werden, bestätigen das düstere Bild, das die Ökonomen zeichnen. In Guatemala sanken die Rücküberweisungen zuletzt um 20 Prozent. In El Salvador kam schon im April um 40 Prozent weniger Geld an als im Jahr zuvor. In Kolumbien und Sri Lanka brachen die Zahlungen um ein Drittel ein.

Nur ein Teil dieses Rückgangs lässt sich mit dem simultanen Konjunkturabschwung erklären. Vielfach erschweren die Regierungen mit ihren Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus selbst, dass noch Geld in ihr Land geschickt werden kann.

80 bis 85 Prozent aller Rücküberweisungen werden immer noch mit Bargeld abgewickelt. In den meisten Fällen geben die Wanderarbeiter ein paar Geldscheine bei einer der 500.000 Filialen von Western Union oder der Konkurrenten Money Gram und Ria ab, und erhalten dafür einen Code. Mit diesem Code geht der Empfänger im Heimatland wiederum zu einer Filiale des Zahlungsdienstleisters in seinem Land und holt sich das Bargeld ab. Während des Lockdowns mussten aber nicht nur diese Filialen meist geschlossen halten, auch viele mobile „Money Agents“ mussten ihre Arbeit auf Geheiß der Regierungen einstellen, um die Verbreitung von Covid-19 zu erschweren. Die Reisebeschränkungen verhinderten zudem, dass die Scheine auf informellem Weg im Koffer oder im Plastiksackerl nach Hause fanden. Eine Chance auf ein Bankkonto haben die ärmeren Menschen in den Entwicklungsländern meist nicht. Digitale Zahlungsmittel erleben zwar seit Corona einen Boom, doch auch hier würden die strengen Vorgaben die Latte für die Betroffenen oft zu hoch legen, warnt Dilip Ratha. Meist würden nur kleine Beträge überwiesen. „Das hat nicht viel mit Geldwäsche zu tun“, sagt er. „Es sollte in der Regulierung einen Unterschied machen, ob ich fünf Dollar oder fünf Millionen Dollar verschicken will.“


Abhängigkeit ist hoch.
Für die betroffenen Familien bricht somit mehr als die Hälfte ihres üblichen Einkommens weg. Millionen an Menschen werden zurück unter die Armutsschwelle gedrängt. Sie werden sich keine Mieten, Schulen und Ärzte mehr leisten können, schätzt die Weltbank. Doch die ausbleibenden Geldtransfers sind auch eine Bedrohung für die Staaten selbst. Gerade jetzt, da alle Länder Geld zur Bekämpfung der Pandemie brauchen, verlieren sie eine wichtige Quelle für Steuereinnahmen und Devisen, mit denen sie etwa wichtige Importe wie den Kauf von Erdöl abwickeln können. Weltweit bekommt Indien mit 82 Milliarden Dollar am meisten zurücküberwiesen, gefolgt von China mit 70,3 Milliarden und Mexiko mit 38,7 Milliarden Dollar. Doch in vielen kleinen Ländern ist die Abhängigkeit vom Geld der Auslandsbürger viel höher, was durchaus kritisch gesehen wird. Die regelmäßigen Geldsendungen würden in den Empfängerländern die Teilnahme am Arbeitsmarkt reduzieren und die Schattenwirtschaft fördern. Unmittelbar fehlt es den Staaten ohne Rücküberweisungen aber an harter Währung. Ändert sich daran nichts, kann sich die Coronapandemie für sie in weiterer Folge rasch zu einer Finanzkrise auswachsen.

Gesundheitsgefahr. Die Situation könne aber auch rasch für die Gastgeber im Westen heikel werden, warnt Antoinette Sayeh vom Internationalen Währungsfonds (IWF). Je länger die Krise andauert, umso drängender wird die Frage werden: Was passiert mit den Migranten, die ihre Jobs verloren haben und sie möglicherweise nicht so rasch zurückbekommen? Viele von ihnen sind im Baugewerbe, im Transportwesen oder im Tourismus beschäftigt. Branchen, die nicht unmittelbar vor dem großen Aufschwung stehen.

Europäische Ballungszentren wie Paris oder London, wo ein Viertel der Arbeitskräfte aus dem Ausland kommt, werden bald darüber nachdenken müssen, wie diese Menschen weiter beschäftigt und vor Ansteckung geschützt werden können. Wie schnell die Lage kippen kann, hat Singapur im April erlebt. Die 5,5-Millionen-Einwohner-Metropole galt lang als Musterschülerin im Kampf gegen die Pandemie. Dann brach eine zweite Welle los, die vor allem Zuwanderer betraf. Fast 20.000 ausländische Arbeitskräfte in zwei Wohnheimen wurden 14 Tage unter Quarantäne gestellt. „Wenn Migranten gesundheitliche Probleme bekommen, ist die ganze Gesellschaft in Gefahr“, sagt Dilip Ratha.

Einige Staaten drohen bereits mit einer radikalen Lösung: Erholt sich die Ölbranche nicht bald, dürften etwa die Wanderarbeiter in Saudiarabien oder in den Vereinigten Arabischen Emiraten rasch ihre Visa verlieren und nach Hause geschickt werden. Genau davor aber warnt der Internationale Währungsfonds. Denn zurück in der Heimat seien die Migranten so perspektivlos wie zuvor – und ein enormes Gesundheitsrisiko.

Derzeit sind die Infektionszahlen in reicheren Staaten viel höher als in Entwicklungsländern. Die Gefahr, dass die Heimkehrer das Virus importieren, sei groß. Die westlichen Länder sollten aus purem Eigennutz danach trachten, dass die Migranten bleiben, meint Antoinette Sayeh. Ansonsten würden ärmere Länder rasch zu neuen Brandherden der Pandemie. Das komme mit der nächsten Migrationswelle „wie ein Bumerang“ in die Industriestaaten zurück. Und die Welt werde es Jahrzehnte kosten, das Virus loszuwerden.

Geldregen

270 Millionen Menschen leben und arbeiten in fremden Ländern und unterstützen ihre Familien in der Heimat mit regelmäßigen Geldüberweisungen in dreistelliger Milliardenhöhe. Diese Rücküberweisungen sichern über einer Milliarde Menschen in ärmeren Staaten die Existenz. In einigen armen Subsaharastaaten machen diese Überweisungen von Migranten einen substanziellen Teil des Bruttoinlandsprodukts aus. Doch seit Covid-19 die globale Wirtschaft lahmgelegt hat, bleibt das lebensnotwendige Geld aus dem reichen Westen aus.

554 Milliarden US-Dollar machten die Rücküberweisungen in Schwellen- und Entwicklungsländern im Vorjahr aus. Das ist deutlich mehr als dort an Hilfsgeldern oder ausländischen Investitionen hereingekommen ist. Egal, ob bei Naturkatastrophen oder während Finanzkrisen, Migranten waren bisher immer die verlässlichste Einkommensquelle für ihre Herkunftsländer.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2020)

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