Frühgeborene

Wenn das Leben (viel) zu früh beginnt

Ungefähr 6200 Frühchen werden pro Jahr in Österreich geboren.
Ungefähr 6200 Frühchen werden pro Jahr in Österreich geboren.Die Presse / Clemens Fabry
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Rund 6200 Frühgeburten finden pro Jahr in Österreich statt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die meisten Kinder holen anfängliche Defizite rasch auf, doch nicht alle Frühchen (über-)leben problemfrei.

Sanft streicht Nurcan Özmen mit dem Finger über den Bauch ihrer Tochter. Vorsichtig gleitet er an der Magensonde vorbei, hinauf zum Gesicht. Die 31-Jährige blickt auf den kirschförmigen Mund, die braunen Augen ihres Kindes – und den Schlauch, der aus der Nase läuft. Noch ist Yaren zu schwach, um allein zu atmen. „Aber sie macht sich“, sagt die Wienerin. Die Blutwerte werden besser, ihr Gewicht mehr, die Schwellungen an Wangen und Füßen schwinden. „Anfangs war es nicht leicht, mein Baby unter der Atemmaske und mit all den Kabeln am Körper zu sehen“, räumt Özmen ein – „doch ich sah, dass sie kämpfte, und jetzt kämpfe ich mit ihr.“

Einfach ist das nicht. Viele Tränen, viele Sorgen begleiten sie. Doch sie hält durch. Seit dem 23. März verbringt sie jeden Tag im Krankenhaus. Familie und Freunde dürfen nur selten zu ihr, die Coronaregeln lassen es nicht zu. Zu riskant. „Es ist okay“, meint Özmen, „vor allem bei meiner Vorgeschichte.“

Unbemerkt krank. Die junge Frau hat bereits drei Fehlgeburten hinter sich. „Bei der ersten dachte ich, das kommt eben vor, bei der zweiten schob ich es auf den Stress“, sagt sie. „Erst bei der dritten wurde eine Schilddrüsenunterfunktion festgestellt, die die Entwicklung der Embryos blockiert hatte.“ Özmen bekam Tabletten und wurde erneut schwanger. „Bis in die 23. Woche verlief alles gut, ich hatte keine Schmerzen, keine Blutungen.“ Beim Organscreening dann der Schock: Der Muttermund war geöffnet – und entzündet.

Die Wienerin wurde ins AKH gebracht, bekam wehenhemmende Mittel und binnen 24 Stunden zweimal Kortison gespritzt, um die Lungenreifung des Babys zu beschleunigen. „Je jünger ein Frühgeborenes auf die Welt kommt, desto unreifer ist die Lunge“, sagt Verena Herrmanns, Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde. „Kündigt sich eine Frühgeburt an, wird versucht, den Prozess mit Korticoidgaben zu beschleunigen und so das Risiko für Atemstörungen und Hirnblutungen zu verringern“, erläutert die Oberärztin der Neonatologie im Wiener St.-Josef-Krankenhaus.

Für Özmen begann ein Wettlauf gegen die Zeit. Viereinhalb Wochen später schien er gewonnen: „Am 24. April hieß es, ich könne das Spital verlassen, der Muttermund sei wieder zu“, sagt sie. Doch schon tags darauf kehrte sie zurück: „Ich bekam Blutungen.“ Das Spiel begann von vorn: Spritzen, Infusionen, Abstriche, Ultraschall. Sieben Tage verstrichen, dann wartete Yaren nicht mehr. Die Wehen setzten ein. Zwanzig Stunden später, am 3. Mai, war sie da: 1168 Gramm leicht, 36 Zentimeter klein – zwölf Wochen zu früh.

Gesund kuscheln. Yaren wurde verkabelt, in den Inkubator gelegt, bekam eine Atemunterstützung, wurde künstlich ernährt. Einmal fielen ihre Werte ab, eine Blutkonserve wurde angehängt. Zur Unterstützung der Lunge bekam sie Medikamente. „Aktuell ist sie stabil, hat nur noch den Schlauch in der Nase“, sagt ihre Mutter. Einzig ihre Temperatur halten kann das Mädchen noch nicht. „Daher kuscheln – känguruhen nennen die Pflegerinnen das – wir viel, und ich summe ihr Lieder vor“, sagt Özmen. „Nähe und Musik stimulieren das Gehirnwachstum und beruhigen“, sagt Ärztin Herrmanns. „Das ist besonders bei Frühchen wichtig, da sie außerhalb der geschützten Fruchtblase viel früher viel mehr Reizen ausgesetzt sind als termingerecht Geborene.“

Zu lernen haben sie ebenfalls mehr, etwa das Schlucken: „Die Brustwarze ist ihr zu groß, beim Fläschchen presst Yaren viel, was sie anstrengt, ihren Puls in die Höhe treibt und Verspannungen auslöst“, schildert Özmen, nimmt die kleinen Beine, hebt und senkt sie. „Man muss aufpassen, dass ihre Glieder locker bleiben, das hilft der Verdauung und schützt vor Fehlstellungen.“ Auch das Gewicht von Frühchen ist zu beachten: „Yaren wiegt jetzt 1,8 Kilogramm, das ist gut, aber zu wenig, um nach Hause zu gehen.“

Babys, die vor dem Ende der 25. Schwangerschaftswoche geboren werden und unter 1000 Gramm wiegen, gelten als Hochrisikokinder. Noch vor zwanzig Jahren verstarb die Mehrzahl von ihnen binnen eines Jahres. Jene, die überlebten, blieben fortan meist körperlich oder geistig beeinträchtigt.

Seither wurden in der Intensivmedizin viele Fortschritte erzielt. „Heute überleben 60 Prozent der Kinder, die in der 24. Woche geboren werden, obwohl sie oft nur 600 Gramm wiegen“, sagt Herrmanns. „Die Überlebenschancen von Babys, die in der 28. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen, liegen gar bei über 90 Prozent.“

Doch auch in der Neonatologie gilt: Ausnahmen bestimmen die Regel. Als „Rekordhalterin“ gilt aktuell Saybie. Sie wurde im Dezember 2018 in der 23. Woche per Notkaiserschnitt geholt und wog damals 245 Gramm. Es sei großartig, wenn die Medizin Leben rettet, sagt Herrmanns; nur dürfe man nicht die Kehrseite der Medaille außer Acht lassen: „Frühchen haben oft kein beschwerdefreies Leben, denn ihre Organe sind noch nicht ausgereift – je früher die Geburt, desto unreifer.“

Vor allem Lunge, Herz-Kreislauf-System, der Magen-Darm-Trakt, das zentrale Nerven- und das Immunsystem sind bei Babys, die vor der 28. Woche geboren werden, noch nicht voll einsatzfähig. „Eine gefährliche Komplikation ist das Atemnotsyndrom“, sagt Herrmanns. Die Säuglinge produzieren zu wenig vom für die Lungenbläschen wichtigen Surfactant, was ihnen das Atmen erschwert. „Atemmasken und Medikamente helfen in den meisten Fällen, sodass sich die Kinder nach einiger Zeit auf der Intensivstation normal entwickeln, aber eben leider nicht immer“, sagt die Medizinerin.

Da das Immunsystem von Frühchen anfangs schwächer ist, können vergleichsweise harmlose Infektionen für sie zudem rasch lebensbedrohlich werden: „Die Eltern und Verwandten sollten daher noch mehr auf Hygiene achten als jene von termingerecht Geborenen, um keine Viren an das Kind weiterzugeben.“

Gefahren, die Emilia nicht erreichten: „Sieben Wochen war unsere Kleine im Krankenhaus, glücklicherweise ohne Komplikationen“, sagt Angelika, die anonym bleiben möchte. Während der Schwangerschaft hatte sie mit solchen hingegen sehr wohl zu kämpfen: Anders als viele Frühchen kam Emilia per Kaiserschnitt auf die Welt. „Während die Schwangerschaft mit meinem Sohn problemlos war und er bei der Geburt stolze vier Kilogramm wog, war es bei Emilia kompliziert“, erinnert sich die 36-Jährige. Ab der 16. Woche hatte sie immer wieder Blutungen, auch ihr Blutdruck war erhöht: „Das Screening ergab, dass Nabelschnur und Plazenta schlecht durchblutet waren und Emilia deshalb nicht richtig wuchs.“


Nötiger Kaiserschnitt. Anders ausgedrückt: „Eine Präeklampsie, also eine Schwangerschaftsvergiftung, kündigte sich an.“ Dabei handelt es sich um eine seltene Erkrankung, die bei etwa fünf Prozent der werdenden Mütter auftritt. Hauptanzeichen sind ein dauerhaft überhöhter Blutdruck der Schwangeren und die Ausscheidung von Eiweiß im Urin. Viele Frauen klagen aber auch über Kopfschmerzen, Sehstörungen und Schmerzen im Oberbauch.

„Man unterscheidet die frühe Präeklampsie, die vor der 34. Schwangerschaftswoche auftritt, und die späte, die danach folgt“, erläutert Herrmanns. Beide Formen können lebensbedrohlich werden – für Mutter und Kind. Medikamente können den Verlauf der Präeklampsie zwar mildern, beenden lässt sie sich aber nur durch die Geburt, die in der Regel ein Kaiserschnitt darstellt.

So auch bei Angelika. In der 30. Woche wurde Emilia geholt. „Sie hatte nur 980 Gramm, normalerweise wiegen Kinder in diesem Alter gut 1,5 Kilogramm“, sagt ihre Mutter. Dennoch: Freude und Erleichterung waren groß und gaben Kraft für sieben Wochen voller Rochaden: „Ich war von der Früh weg bis zum Abend im Krankenhaus, dann löste mich mein Mann ab und blieb bis in die Nacht.“ Der Grund für die Abwechslung: „Coronabedingt hatten wir keine Betreuung für unseren dreijährigen Sohn.“ Ihn mit auf die Station zu nehmen, war keine Option: „Geschwisterkinder sind nicht erlaubt.“Die erste Frühgeburt in der Familie war Emilia übrigens nicht: „Auch der Sohn meiner Schwester ist ein Frühchen, warum, weiß ich nicht“, sagt Angelika.

„Die Gründe für Frühgeburten sind mannigfaltig“, sagt Neonatologin Herrmanns, die selbst Mutter dreier Kinder ist. „Häufigste Ursache ist eine Spontangeburt: Die Fruchtblase platzt zu früh, Wehen setzen ein und das Baby lässt sich nicht mehr aufhalten.“ Auslöser, respektive Risikofaktoren können Infektionen in der Scheide oder der Gebärmutter sein, aber auch Rauchen, Diabetes oder Bluthochdruck der Mutter. „Frauen, die viel Stress haben, an Über- oder Untergewicht leiden, neigen ebenfalls zu Frühgeburten“, zählt Herrmanns auf.

Und das Alter kann eine Rolle spielen: Je älter die werdende Mutter, desto wahrscheinlicher ist eine Frühgeburt. Aber: „Es muss nicht viel früher sein, oft sind es nur ein paar Tage.“ Und: „Eine Frühgeburt ist nicht per se schlimm: Die meisten Kinder, vor allem jene, die nach der 28. Schwangerschaftswoche kommen, holen rasch alles auf, nur bei den sehr frühen Fällen kann es kritisch werden.“

Eine Besonderheit sind Mehrlingsschwangerschaften. „Oft schaffen Zwillinge oder Drillinge den für sie errechneten Geburtstermin nicht“, sagt Herrmanns. Das erlebte auch Julia Hauswirth-Kleiber. Die 42-Jährige hatte bereits einen Sohn und eine Tochter, als sie vor zwei Jahren mit Zwillingen schwanger wurde. „Anders als viele Mütter konnte ich mich auf die Frühgeburt einstellen“, sagt sie. Denn: „Schon in der achten Woche sah man, dass sich die Zwillinge eine Plazenta teilen.“ Die Anwältin wurde engmaschig kontrolliert, um sicherzugehen, dass die Buben trotzdem genug Nährstoffe hatten. „In der 33. Woche bekam ich Blutungen“, erinnert sich Hauswirth-Kleiber. „Man entschied, die Kinder zu holen – sechs Tage vor dem geplanten Termin.“ Denn: „Zwillinge gelten als früher ausgereift, werden daher meist schon in der 34. Woche geholt.“

Die erste Woche nach dem Kaiserschnitt verbrachte sie mit den Kindern im AKH, „dann musste ich abends nach Hause gehen – und sie zurücklassen“, so Hauswirth-Kleiber. „Es war schrecklich, doch es gab zu wenig Zimmer.“

Nachsorge als Vorsorge. Mittlerweile sind die Zwillinge 14 Monate alt und längst daheim. Ärzte besuchen sie dennoch öfter. „Beide sind gesund, doch bei Frühchen wird dazu geraten, sie öfter untersuchen zu lassen“, sagt Hauswirth-Kleiber. Herrmanns präzisiert: „Augen und Ohren von zu früh Geborenen sind oft empfindlicher, ein Drittel der ehemaligen kleinen Frühgeborenen benötigt im späteren Leben eine Brille.“ Auch in der Motorik lassen sich bei Kindern, die vor der 32. Schwangerschaftswoche geboren wurden, zuweilen Auffälligkeiten sehen, etwa beim Halten der Balance oder der Handgeschicklichkeit. In der Schule fallen sie manchmal auf, weil sie sich schlechter konzentrieren können, „viele der sehr frühen Frühgeborenen wiederholen daher irgendwann eine Klasse“, sagt Herrmanns.

Und ergänzt: „Eine gute Nachsorge kann viel bewirken. Je mehr man sich mit den Frühchen beschäftigt und sie fördert, desto schneller können sie zu später Geborenen aufschließen.“ Dass dies eines Tages auch Yaren gelingt, hofft Nurcan Özmen sehr. Bis dahin stehen ihr und ihrer Tochter vermutlich eine Reihe von Untersuchungen, Sorgen und schlaflosen Nächten bevor. „Das Leben mit einem Frühchen ist fordernd“, gibt die junge Mutter zu, „aber auch wunderschön.“

Fakten

Eine Schwangerschaft dauert regulär 40 Wochen/280 Tage. Frühchen sind Kinder, die vor der vollendeten 37. Woche geboren werden.

In Österreich sind rund acht Prozent der Lebendgeborenen pro Jahr Frühgeburten, das ergibt circa 6200 Babys. Etwa 900 werden vor der 32. Woche geboren.

Vier Prozent aller Kinder werden exakt am errechneten Termin geboren, die meisten zwischen der 38. und 42. Woche.

Extrem frühe Frühgeburten erfolgen vor der vollendeten 28. Woche; diese Kinder wiegen meist weniger als 1000 Gramm. Frühe Frühgeburten finden nach dem Ende der 28., aber vor dem Ende der 32. Woche statt, späte Frühgeburten nach der 32. und vor dem Ende der 37. Woche. Während bei sehr früh Geborenen die Gefahr von körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung besteht, entwickeln sich Spät-Frühgeborene in der Regel wie Reifgeborene.

Als überlebensfähig gelten Kinder gemeinhin ab der 23. Woche.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2020)

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