„Gretel und Hänsel“

Die Hexe lehrt schwarze Magie

Während ihr jüngerer Bruder Hänsel vor allem gemästet wird, lernt Gretel – vorne im Bild: Sophia Lillis – von der Hexe – überzeugend: Alice Krige – diverse dunkle Künste.
Während ihr jüngerer Bruder Hänsel vor allem gemästet wird, lernt Gretel – vorne im Bild: Sophia Lillis – von der Hexe – überzeugend: Alice Krige – diverse dunkle Künste.(c) United Artists
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Mit Kerzen beleuchtete Hütte statt Knusperhaus: In „Gretel und Hänsel“ lädt Oz Perkins das Grimmsche Märchen mit Naturmystik auf. Exzentrischer Kunsthorror.

Das Knusperhaus ist abgebrannt. An seiner Stelle steht eine schwarzhölzerne Hütte, deren spitz zulaufender Giebel und streng geometrische Form an brutalistische Architektur und mittelalterliche norwegische Stabkirchen denken lässt, die sich jedenfalls absetzt vom romantischen Finsterwald rundherum. Im Inneren hingegen dominiert warmes Kerzenlicht, das den allzeit gedeckten Gabentisch, voll gestellt mit Honigschwein, Kuchen und anderen Köstlichkeiten, in bernsteinfarbenes Licht taucht. Ein Anblick, der die beiden ausgehungerten Kinder, die Reißaus genommen haben vor ihrer eine Axt schwingenden Mutter, alle angebrachte Vorsicht vergessen lässt . . .

„Gretel und Hänsel“ ist eine Adaption des (beinahe) gleichnamigen Märchens der Gebrüder Grimm. Dass Regisseur Osgood „Oz“ Perkins, der einzige Sohn von Anthony Perkins, dem Norman-Bates-Darstellers aus „Psycho“, den Originaltitel umdreht, suggeriert bereits das Leitthema seines Kunsthorrorstücks. Während der kleine Hänsel (Samuel Leakey) die meiste Zeit über gemästet wird, entspinnt sich zwischen seiner älteren Schwester Gretel (Sophia Lillis) und der Hex' (Alice Krige) eine andere Dynamik. Die unheimliche Alte will dem Mädchen ihre schwarzmagischen Weisheiten vermitteln, die Kommunikation mit der Natur sowie deren Manipulation sind hier Entsprechungen einer atavistischen, naturmystischen und ziemlich grausamen Weiblichkeit.

Junge Frauen und ihre Begegnungen mit dem Übersinnlichen stehen im Zentrum von allen drei bisherigen Langfilmen dieses Regisseurs. In Perkins' Debüt „Die Tochter des Teufels“ (2015) werden Studentinnen in einem verlassenen Internat von einer dämonischen Entität bedroht. Der Netflix-Film „I Am The Pretty Thing That Lives In Your House“ (2016) ist eine literarisch geprägte, streng formalistische Meditation über die Spuren, die verlebte Leben oder der Tod selbst in Häusern hinterlassen, ausgespielt über drei Generationen von Frauen. Darin wird überdeutlich, wie stark Perkins vom klassischen Schauerroman beeinflusst ist, der die Geistererscheinungen immerzu rückgebunden hat an konkrete Räume und Gebäude.

Orientiert am Neo-Gothic-Kino

Insofern ist es wenig überraschend, dass der überwiegende Teil seines neuen Films „Gretel und Hänsel“ im Hexenhaus angesiedelt ist. Im Gegensatz zum Vorgänger, der eine klassisch-elegante Gothic-Atmosphäre kreiert, wechselt Perkins sein ästhetisches Register und orientiert sich stark am europäischen Neo-Gothic-Kino der Sechzigerjahre. Regisseure wie Mario Bava und Terence Fisher fertigten damals mit extravaganter Farb- und Lichtdramaturgie schaurige Kunstwelten, komplett abgeriegelt von jedweder außerfilmischen Wirklichkeit. „Gretel und Hänsel“ leuchtet in allen Farben der Nacht und ist überhaupt derart obsessiv durchgestylt, in jeder Bewegung und Regung, jedem Dialogsatz und jedem Ausstattungsgegenstand, dass man bisweilen meint, in einer Installation zu hocken. Die extreme Künstlichkeit dieser bis in den hintersten Winkel vermessenen Welt kippt bisweilen in profunde Leblosigkeit. Rettung verschaffen die Schauspielerinnen, allen voran Alice Krige als Hexe.

„Rotkäppchen“ mit Werwölfen

Dass Märchen, insbesonders die von den Gebrüdern Grimm zusammengetragenen und überarbeiteten, ein potentes Substrat für Horrorgeschichten sind, ist dem Kino hinlänglich bekannt. 1984 erweiterte Neil Jordan in seiner dunklen Fantasy „Die Zeit der Wölfe“ die Rotkäppchen-Geschichte um Werwölfe, 1997 sorgte Sigourney Weavers Hexendarstellung in der Erwachsenengruselversion von „Schneewittchen“ für Entsetzen. Oscar-Preisträger Guillermo del Toro versetzte in seinem Meisterstück „Pans Labyrinth“ (2006) das Entwicklungsmärchen eines jungen Mädchens mit saftigen Elementen von dunkler Fantasy und den realen Gräueln des Franquismus, Matteo Garrones „Das Märchen der Märchen“ (2015) führte zurück zu den Ursprüngen der Erzählform, zu Giambattista Basiles „Pentameron“, das später auch den Gebrüdern Grimm als Inspirationsquelle dienen sollte. Im Vergleich zu derart großen Entwürfen ist „Gretel und Hänsel“ ein kleines Kammerspiel in exzentrischem Aufzug, eine visuell berauschende Revision inklusive lässigem Synthwave-Score, aber auch kalt und unnahbar.

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