Enthüllt: Das Logbuch des Afghanistan-Krieges

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Was in Afghanistan in fünf Jahren Krieg schief gelaufen ist, das enthüllen 91.713 Berichte, die die Internetplattform WikiLeaks veröffentlicht hat. Es handelt sich vor allem um Berichte von kämpfenden Truppen.

Der Krieg, den die Internationale Schutztruppe seit neun Jahren in Afghanistan führt, läuft gar nicht gut - und es könnte noch schlechter werden: Gerade erklärte US-Generalstabschef Mike Mullen in Kabul, er erwarte, dass die Kämpfe gegen die Aufständischen in den nächsten Monaten noch zunehmen werden. Dabei war der Juni mit über hundert gefallenen Isaf-Soldaten bereits der bisher blutigste seit Beginn der Intervention im Herbst 2001; dabei waren noch nie so viele internationale Soldaten in Afghanistan wie derzeit: 150.000 Mann aus 42 Staaten.

Was in Afghanistan alles schiefläuft, das enthüllen exakt 91.713 zum Großteil geheime Berichte, die die Internetplattform WikiLeaks jetzt veröffentlicht hat und die zuerst der "New York Times", "Guardian" und dem „Spiegel" zugänglich gemacht wurden. Es sind vor allem Berichte der kämpfenden Truppe auf den afghanischen Schlachtfeldern, aber auch Lagebeurteilungen von Geheimdienstlern. Die Berichte umfassen die Jahre 2004 bis 2009 - einen Zeitraum also, in dem sich die Sicherheitslage in Afghanistan sukzessive verschlechtert hat.

Aus den Dokumenten ergibt sich ein Logbuch des Afghanistan-Krieges. Nicht alle Erkenntnisse darin sind neu. Die Berichte vom Feld bestätigen aber bisherige Annahmen mit ungewöhnlicher Schärfe:

► Pakistans doppeltes Spiel. Pakistan erhält von den USA jedes Jahr über eine Milliarde Dollar dafür, dass es den Kampf des Westens gegen die aufständischen Taliban unterstützt. Bei ihrem Besuch in Islamabad im Juli hat Außenministerin Hillary Clinton weitere 500.000 Millionen zugesagt.


Die jetzt veröffentlichten Dokumente zeigen freilich, dass der berühmt-berüchtigte pakistanische Militärgeheimdienst ISI (Inter-Services-Intelligence) möglicherweise auch heute noch der wichtigste außer-afghanische Helfer der Taliban ist. „Ohne Hilfe aus dem Nachbarland Pakistan", urteilt der „Spiegel", „gäbe es keine Taliban". Aus den Berichten geht hervor, dass der Geheimdienst ISI nicht nur Waffen und Munition an afghanische Aufständische liefert, sondern sich mit Talibanführern auch zu geheimen Strategiesitzungen trifft, Netzwerke von Kämpfern mitorganisiert, Selbstmordattentäter auf Ziele in Afghanistan losschickt (selbst Präsident Hamid Karzai soll auf der ISI-Abschussliste stehen).


Wiederholt taucht der Name von Generalleutnant Hamid Gul auf, Chef des pakistanischen Geheimdienstes von 1987 bis 1989. Ihm werden beste Kontakte zu den afghanischen Rebellenführern Jaluluddin Haqqani und Gulbuddin Hekmatyar nachgesagt, die er ebenso pflegt wie seine intakten Verbindungen zu Militärführung und Geheimdienst in Pakistan. Gul soll Talibanangriffe, Entführungen und sogar das Niederbrennen von Schulen in Afghanistan koordiniert haben.

► Jagd auf Talibanführer. Die USA unterhalten Sondereinsatzkommandos in Afghanistan, deren Hauptaufgabe das Ausschalten von Führern der Aufständischen ist. Die stehen auf einer streng geheimen Liste der Nato-Truppe: Top-Taliban, al-Qaida-Mitglieder, Drogenbarone, Bombenbauer. Die Kommandos werden von Elitesoldaten der „Navy Seals" und „Delta Force" gebildet und erhalten ihre Einsatzbefehle direkt aus dem Pentagon. Seit Sommer, heißt es im „Spiegel", sind 300 Angehörige der US-Sonderkommandos auch auf dem Gelände des deutschen Feldlagers Camp Marmal in Mazar-i-Sharif stationiert.

► Brandherd Nordafghanistan. Nannten die deutschen Bundeswehrsoldaten anfangs ihren Einsatzort in Nordafghanistan anfangs noch verharmlosend „Bad Kunduz", hat sich die Lage dort längst dramatisch verschlechtert. Schon Ende Mai 2007 hieß es in einem von den Deutschen abgegebenen Lagebericht: „Die Sicherheitslage in der Provinz Kunduz wird immer brüchiger." Inzwischen werden dort fast täglich Polizei-Checkpoints beschossen, explodieren Straßenbomben, werden afghanische und Nato-Patrouillen in tödliche Hinterhalte gelockt.


► Demoralisierte Afghanen. Zwar hat die internationale Afghanistan-Konferenz vor einer Woche beschlossen, dass bis 2014 die afghanischen Sicherheitskräfte die Kontrolle im Land übernehmen sollen. Die Militärdokumente zeigen indes, dass die afghanischen Soldaten und Polizisten im Kampf gegen die Aufständischen einen besonders hohen Blutzoll zahlen und von diesen auch gezielt ins Visier genommen werden: 2500 Angehörige der afghanischen Sicherheitsapparate wurden in den vergangenen drei Jahren getötet.

► Störanfällige Drohnen. Nicht bemannte Fluggeräte, die zur Aufklärung und als Waffenplattformen im Einsatz sind, werden von führenden US-Militärs und Geheimdienstlern gerne als Wunderwaffen im Afghanistan-Krieg gepriesen. Doch sie sind störanfällig, wie die Berichte vom Feld beweisen. Es kommt zu Computerfehlern, Systemversagen, menschlichen Fehlern bei der Einsatzkontrolle. Wenn abgestürzte Drohnen dann geborgen werden sollen, weil ihre Datenbanken nicht den Aufständischen in die Hände fallen dürfen, geraten Einsatzteams oft in gefährliche Situationen.

► Ausländische Kämpfer. Araber, Tschetschenen, Uiguren und Usbeken spielen beim Kampf gegen die Nato-Truppen eine führende Rolle. Gerade sie dürften die tödlichen Aufstandstechniken wie Straßenbomben und Selbstmordanschläge aus dem Irak nach Afghanistan transferiert haben.

► Motive der Taliban. Die Aufständischen handeln laut den Dokumenten eher selten aus religiösen Motiven, dafür umso mehr, um Zusatzeinkommen und größeren Einfluss auf das gesellschaftliche Geschehen zu bekommen. Gegen die eigene Bevölkerung gehen sie äußerst skrupellos vor, wenn es darum geht, sie von der Zusammenarbeit mit den Nato-Truppen abzuhalten. 2009 erreichte auch die Zahl der getöteten Zivilisten laut einem UNO-Report einen Spitzenwert: 2118 Todesopfer, 1160 von den Aufständischen getötet, 828 von den Nato-Truppen (sogenannte „Kollateralschäden").

("Die Presse" Printausgabe vom 27. Juli 2010)

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