Wort der Woche

Zeitempfinden

Unser Zeitempfinden ist relativ: Auch während des Corona-bedingten Lockdown wurde es kräftig durcheinander geschüttelt – allerdings individuell auf unterschiedliche Weise.

Zeit ist bekanntlich etwas Relatives. Das gilt nicht nur für die theoretische Physik, sondern auch für uns Menschen. Aus Erfahrung wissen wir, dass sich unser Zeitempfinden je nach den Umständen verändert: Wenn uns langweilig ist und wir z. B. auf die U-Bahn warten, können fünf Minuten unendlich lang dauern; wenn wir hingegen unsere Lieblingsoper hören oder ein spannendes Buch lesen, fliegt eine Stunde dahin wie nichts. Diese Relativität zeigte sich auch in den vergangenen Monaten: Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergangen ist – mir jedenfalls erscheint die Zeit vor dem Lockdown wie in ferner Vergangenheit; gleichzeitig sind aber die Wochen von Ausgangssperren und Home-Office, soweit ich mich erinnern kann, wie im Flug vergangen.

Wenn man näher darüber nachdenkt, ist man verwirrt. Es geht aber nicht nur mir so: Dass die Zusammenhänge in der Tat verwickelt sind, macht einmal mehr eine eben veröffentlichte Studie der Psychologin Ruth S. Ogden (Liverpool John Moores University) deutlich. Sie hat während des Lockdown in Großbritannien mehr als 600 Menschen befragt, wie rasch deren Tage und Wochen gefühlsmäßig vergangen sind; zudem wurden psychologische Tests über Arbeitsbelastung, Stress und Zufriedenheit mit Sozialkontakten durchgeführt.

Das verwirrende Ergebnis: Nur jede(r) fünfte Befragte berichtete, dass die Zeit gleich schnell vergangen ist wie vor Corona. Für rund 40 Prozent verging sie hingegen schneller, für die restlichen 40 Prozent langsamer (PlosOne, 6. 7.). Einmal mehr zeigte sich also, dass es erhebliche subjektive Unterschiede im Zeitempfinden gibt – die Ogden zum Teil mit psychologischen Faktoren erklären kann. Schneller verging die Zeit demnach für Menschen in jüngerem Alter, bei geringerem Stress, höherer Arbeitsbelastung und größerer Zufriedenheit mit den Sozialkontakten.

In meinem Fall erklärt dies gut, warum meine Tage während des Lockdown – in denen ich recht umtriebig war – so rasch vergangen sind (und warum sie sich bei Bekannten dahingeschleppt haben). Keine Erklärung gibt die Studie hingegen für mein Gefühl, dass die Vor-Corona-Zeit viele Jahre zurückzuliegen scheint. Hängt es vielleicht damit zusammen, dass sich seither so viel getan hat? Eine Antwort wird mir sicherlich irgendwann eine weitere Studie geben. Denn so schlimm die Corona-Krise auch sein mag: Für die Wissenschaft bietet sie ein bis dato nicht dagewesenes natürliches Experiment, das viele neue Erkenntnisse ermöglicht.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2020)

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