Einblick in die Mistelbacher Ausstellung, im Vordergrund die auf dem Boden arrangierten neuen Blumenbilder, an der Wand ein überarbeitetes älteres Schüttbild.
Ausstellung

Hermann Nitsch: Die Blumen über dem Abgrund

Noch nie hat Hermann Nitsch so heitere Kunst gemacht. Wilde Blumenbilder, die an die Seerosen von Claude Monet denken lassen. Eine Assoziation, die der Aktionist durchaus zulässt.

Was für ein Farbenrausch. Staunend schreitet man sie ab, die neuen Bilder des Orgien-und-Mysterien-Meisters. Flieder, Puderrosa, Sonnengelb, Orange, Tiefseeblau, Smaragdgrün explodieren auf den großen Leinwänden zu sommerlichen Farbfeuerwerken, fügen sich zu wahren Blumenteppichen an Wänden und am Boden der großen Ausstellungshalle des Mistelbacher Nitsch-Museums. Es ist erstaunlich. Während die Welt in eine tiefe Krise schlittert, hat man Hermann Nitschs Kunst so heiter – ja so lächelnd wie der von ihm so geliebte auferstehende Christus des Isenheimer Altars in seiner lichten Gloriole – noch nie gesehen.

Da ist er auch schon, betritt sein Museum, wird allein auf den paar Schritten immer wieder angesprochen von den für unter der Woche gar nicht wenigen Besuchern hier, setzt sich auf den schnell aufgestellten Sessel im leicht erhöhten Teil des lang gestreckten Saals. Von hier überblickt er wie ein schwarzer Monolith stoisch das ganze Geschehen, die ganze Inszenierung, den Gehstock wie ein Zepter neben sich in den Boden gestemmt. 82 Jahre wird der Wiener Aktionist diesen August, gut scheint es ihm zu gehen.

Ästhet des gesamten Lebens. Wie er die bisherige Coronazeit überstanden habe? Das Wort wolle er nicht hören, er mag es nicht. Wer tut das schon! So wenig Thema aber wie in einem Gespräch mit Nitsch ist es trotzdem selten. Vielleicht muss man gerade ob dieser offensiven Aussparung daran denken, wenn man unter seinen wachen Augen die Ausstellung durchstreift. Es ist also ein Zufall, aber ein beängstigend passender, dass man diese intensive Zeit hier so wiederzufinden glaubt. Denn derart extrem hat der Ästhet des menschlichen Lebensgesamtkunstwerks die Gegensätze, die Dualität von Leben und Tod, von Liebe und Bestialität, von Bewusstem und Unbewusstem, die sein Werk von Beginn in den 1950er-Jahren an immer schon durchzogen haben, in seiner Malerei zumindest noch nie sichtbar werden lassen.

Der Abgrund nämlich lauert unter den Pastelltönen. Man muss genau schauen, nur schmal sind meist die Streifen, die einen Blick möglich machen auf die Schüttbilder, die dann übermalt wurden. Braun sind sie, man ahnt es also gleich: Blut ist hier geflossen, Schweineblut genauer gesagt. Nur vor diesem Hintergrund, vor Schmerz und vor dem Vergehen, kann wieder Leben entstehen, kann Fröhlichkeit, ja Glück empfunden werden. Oder auch die Lust, mit der Nitsch mit beiden Händen in die dick aufgetragenen Farben gegriffen hat, in ihnen gewühlt hat wie die Akteure seines Theaters sonst in den Eingeweiden geschlachteter Tiere.

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