Gedankenlese

Putins „wahre Lektionen“ aus dem Zweiten Weltkrieg

Der russische Präsident legt dar, was seiner Meinung nach den Krieg auslöste – mit teilweise haarsträubenden Thesen.

Auch das noch: Wladimir Putin war schon Pilot, Tigerpfleger, Amphorentaucher, Taigaforscher, Motorradrocker und, und, und – russischer Präsident sowieso. Neuerdings ist Putin auch Historiker. Im Juni veröffentlichte er im US-Fachmagazin „The National Interest“ einen langen Aufsatz, in dem er die seiner Meinung nach „wahren Lektionen aus 75 Jahren Kriegsende“ erteilt. Die russische Botschaft in Berlin leitete die deutsche Übersetzung dann per E-Mail an deutsche Osteuropa-Historiker mit dem Hinweis weiter, den Text doch bitte „künftig bei der Vorbereitung von historischen Beiträgen zu nutzen“. Leicht vorzustellen, wie gut diese offizielle Anregung bei den Empfängern ankam.

Bestimmt hat Putin den Text nicht selbst geschrieben. Vermutlich hat ein Team Kreml-naher Historiker die zahlreichen revisionistischen Auslassungen Putins zu historischen Fragen der vergangenen Jahre zusammengefasst und in einen Artikel gegossen. Putin hat schon wiederholt versucht, vom berüchtigten Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 als Mitauslöser des Zweiten Weltkriegs abzulenken. Das tut er auch hier, indem er den „Verrat von München“ als „Zünder“ darstellt, der den Krieg unvermeidbar gemacht habe.

Putin geht auch erneut in aller Schärfe gegen Polen los, das beim „Betrug von München“ 1938 mitgemacht und sich geweigert habe, „Verpflichtungen gegenüber der sowjetischen Seite zu übernehmen“. Für Polens Tragödie sei „voll und ganz“ die damalige polnische Führung verantwortlich. Mehr als schamlos ist auch Putins Behauptung, die „Inkorporation“ der baltischen Republiken im Herbst 1939 sei auf vertraglicher Basis in Abstimmung mit den gewählten Autoritäten und „in Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Normen und Staatsgesetzen jener Zeit“ erfolgt.

Nicht alle Thesen Putins sind revisionistisch. Niemand kann bestreiten, dass die Sowjetunion mit 27 Millionen Opfern den höchsten Blutzoll bei der Niederringung Nazi-Deutschlands zahlte. (Was Putin wohl abstreiten würde, ist, dass er auch wegen Stalins Säuberungen in der Armeespitze 1937/38 und wegen seiner Negierung der Gefahr eines deutschen Überfalls 1940/41 trotz rechtzeitiger Warnungen so hoch war.) Niemand wird auch bestreiten, dass Großbritannien und Frankreich mit dem Kniefall vor Hitler in München und ihrem Einverständnis zur Aufteilung der Tschechoslowakei einen katastrophalen Fehler begangen haben.

Weiters ist Putin zuzustimmen, dass es für die richtige Einschätzung des Kriegs „entscheidend ist, sich ausschließlich auf Archivdokumente und zeitgenössische Beweisstücke zu verlassen und ideologische und politische Spekulationen zu unterlassen“. Er fordert in diesem Kontext, „den Prozess der Archivöffnung und Veröffentlichung bisher unbekannter Dokumente aus der Kriegs- und Vorkriegszeit“ zu beschleunigen. Freilich, diesen Appell sollte er in erster Linie an die eigene Adresse richten und die eigenen Archivwächter dazu bringen, die Dokumente des KPdSU-Politbüros, des Zentralkomitees, des sowjetischen Außenministeriums und der diversen Geheimdienste zur Einsicht freizugeben.

Schließlich wirbt Putin in seinem Artikel abermals für seine Idee eines Gipfeltreffens der fünf Mächte des UN-Sicherheitsrats, damit diese in alter Teheran-/Jalta-/Potsdam-Manier über den Lauf der Dinge in der Welt entscheiden. Eine Fünfer-Runde in der jetzigen Zusammensetzung mit Putin, Donald Trump, Xi Jinping, Emmanuel Macron und Boris Johnson? Verschone die Welt, o Herr!

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