Neues Album

Haim: Gähnen und Kokain in der Glitzerstadt

Schläfrige Einzählreime, ostentatives Gähnen oder Telefonsignale verbinden die Lieder miteinander: darunter die reichlich ambivalente Stadthymne „Los Angeles“.
Schläfrige Einzählreime, ostentatives Gähnen oder Telefonsignale verbinden die Lieder miteinander: darunter die reichlich ambivalente Stadthymne „Los Angeles“.(c) Universal Music
  • Drucken

Das Girltrio Haim aus Los Angeles hat einen Liederzyklus ersonnen, der süchtig machen kann: „Women in Music Pt. III“ kombiniert fröhliche Rhythmen mit traurigen Texten zu einer eklatant widersprüchlichen Musik.

Das unaussprechlich Innige aller Musik beruht darauf, dass sie alle Regungen unseres innersten Wesens wiedergibt“, schrieb der Philosoph Arthur Schopenhauer. Er wäre wohl sehr verwirrt, könnte er die famose Mädchenband Haim mit ihrem dritten Album hören. Der Widerspruch zwischen den heiteren Rhythmen und den depressiven Texten ist eklatant. Und macht jede Menge Spaß.

„Los Angeles“, Opener des Albums „Women in Music Pt. III“, setzt den idealen Grundton für diesen süchtig machenden Liederzyklus. Ostentatives Gähnen, Telefonsignale oder schläfrige Einzählreime verbinden die Lieder miteinander. „Los Angeles“ ist als Stadthymne reichlich ambivalent. Die Grundstimmung erinnert an Tschechows Drama „Drei Schwestern“. Wo es diese nach Moskau zieht, wollen die Haim-Schwestern nach New York. Sie probieren es, kehren enttäuscht zurück und hadern weiterhin mit L. A. Der suggestive Gesang der 31-jährigen Danielle Haim wirkt sonnig. Doch rasch erkennt der Hörer das düstere Szenario. Im Eckladen wird Kokain angeboten. Die Protagonistin lehnt ab, obwohl ihr ein wenig Stimulanz guttäte, denn: „These days I'm breaking, losing faith.“

Die Glitzerstadt Los Angeles wird aus der Perspektive der Nebelländer oft als Paradies interpretiert. Ganzjährig warmer Sonnenschein, permanent blauer Himmel und lange Strände, kurz, eine Verheißung von ewigem Sommer. Albert Hammond schwärmte 1972 naiv von diesem Aspekt in „It Never Rains in Southern California“. Als gebürtigem Londoner konnten ihm die Einheimischen das nachsehen. Aber in ihren eigenen Songs gaben die Angelenos, die aus L. A. gebürtigen Künstler, reichlich Zeugnis darüber ab, dass auch in meteorologischen Hochdruckgebieten Depressionen gut gedeihen.

Bukowskis düstere Stadtpoesie

So ist die dunkle Seite dieser großen Stadt, in der geschäftlicher Erfolg in Film, Musik und Medien intensiv forciert wird, etwa in den sinistren Kriminalromanen von James Ellroy widergespiegelt. Auch die alkoholgeschwängerte Poesie des mit drei Jahren nach L. A. gekommenen Kultautors Charles Bukowski reflektiert die Kehrseite des amerikanischen Traums, der bekanntlich nicht für alle funktionieren kann. Wer die Lieder dieser Stadt durchforstet, entdeckt nach Happy-Hippie-Songs à la „California Dreaming“ (The Mamas & The Papas) und den Hochglanzpopperlen einer Katy Perry rasch viel Dunkles und Selbstzerstörerisches.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.