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Staatsfinanzierung: Wer zieht hier endlich die Notbremse?

EZB-Chefin Christine Lagarde: Die EZB missachtet zunehmend ihre selbst aufgestellten Regeln.
EZB-Chefin Christine Lagarde: Die EZB missachtet zunehmend ihre selbst aufgestellten Regeln.(c) REUTERS (Kai Pfaffenbach)
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Die EZB pfeift zunehmend auf ihre eigenen Regeln und wird heuer die prognostizierten Defizite von acht Euroländern praktisch zur Gänze finanzieren. Ein gefährlicher Weg, der nach der Krise schnell gestoppt werden muss.

Die Europäische Zentralbank (EZB) wird heuer über Staatsanleihenkäufe vier Euroländern, darunter Österreich, das gesamte (in der obligatorischen Meldung an die EU) prognostizierte Defizit finanzieren und weiteren vier, darunter den Schulden-Problembären Italien, Belgien und Spanien, fast das gesamte Defizit, heißt es in einer diese Woche vorgelegten Studie des Mannheimer ZEW-Instituts für Wirtschaftsforschung. Indirekt zwar, weil Geschäftsbanken dazwischengeschaltet sind, aber immerhin.

Und: Wahrscheinlich Anfang 2021 wird der Anteil des Eurosystems an den Staatsschulden seiner Mitglieder ein Drittel übersteigen. Die EZB erreicht damit die Sperrminorität und somit die wichtigste Position unter den Gläubigern der Euroländer. Ohne sie geht dann bei eventuellen Umschuldungs- oder Schuldenschnitt-Verhandlungen (die ja angesichts der Schuldenexplosion nicht ausgeschlossen sind) gar nichts mehr.

Die EZB, die formell zwar unabhängig ist, deren Entscheiderpositionen aber natürlich von den Regierungen der Mitgliedstaaten besetzt werden, bekommt damit eine sehr mächtige Position. Etwas polemisch formuliert, bekommen die Schuldner über ihren politischen Einfluss auf die Notenbank indirekt Mitentscheidungsgewalt darüber, was im Ernstfall mit ihren Schulden geschieht.

Ist das jetzt die gefährliche direkte Staatsfinanzierung, die der Zentralbank laut Artikel 123 des Lissabon-Vertrags verboten ist? Das sei eine „offene Diskussion“, meinen die Studienautoren vorsichtig diplomatisch. Aber es sei verdammt nahe dran.

Natürlich: Wir stecken pandemiebedingt in der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Eine außerordentliche Situation, die außerordentliche Maßnahmen erfordert. Und bei der man es mit für normale Zeiten aufgestellten Regeln nicht unbedingt so genau nehmen muss. Für das im Frühjahr aufgelegte, 1,35 Billionen Euro „schwere“ Krisen-Anleiheankaufsprogramm PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme) wurden deshalb wichtige, bisher geltende Regeln außer Kraft gesetzt.

Aber das ist nicht der Kern des Problems. Denn die Hinwendung der Notenbank in Richtung Staatsfinanzierung hat mit der aktuellen Krise nur am Rande zu tun. Die EZB hat, so die deutschen Wirtschaftsforscher, schon seit 2015 die vergleichsweise strengen Regularien für das PEPP-Vorgängerprogramm PSPP (Public Sector Purchase Programme) immer stärker überdehnt und gelockert. Beispielsweise die Liste der ankaufsfähigen Anleihen, die Obergrenzen pro Emittent und Emission und vor allem den Kapitalschlüssel.

Der sieht vor, dass die Anleihenkäufe proportional aufgeteilt werden. Der prozentuelle Anteil eines Eurolandes an den Gesamtkäufen sollte dessen prozentuellem Anteil an der EZB entsprechen. Diese Regel wird seit fast fünf Jahren verletzt. Und zwar immer stärker. Laut ZEW zeigt die Analyse, „dass die Übergewichtung der Anleihenkäufe in Richtung der hoch verschuldeten Staaten Frankreich, Belgien, Italien und Spanien bereits vor Corona sehr deutlich im Gange war“. Das widerspreche sogar den nunmehr gelockerten PSPP-Regeln, die den Kapitalschlüssel noch immer als relevanten Kompass für die aufgelaufenen Bestände definieren. Seit Ausbruch der Coronakrise hat die Übergewichtung für Spanien und Italien noch dramatisch zugenommen.

Übersetzt: Die EZB hat den Schuldenkaisern in der Eurozone schon in Hochkonjunkturzeiten durch massive Stützung dabei geholfen, dem Motto „Schulden statt Reformen“ zu frönen. Die Hinwendung zur Staatsfinanzierung wurde also nicht erst durch Corona ausgelöst.

Und das ist das Gefährliche daran: Wenn es schon vorher Usus war, sich um aufgestellte Regeln wenig zu scheren, dann ist die Chance gering, dass die aus der Rezessionsnot heraus gelockerten Bestimmungen nach dem Ende der Corona-Rezession wieder angezogen werden. Die EZB wird also weitermachen, was sie in den vergangenen Jahren zunehmend gemacht hat: Probleme der höchstverschuldeten europäischen Länder durch „Gelddrucken“ zu lösen. Dafür ist sie aber nicht da und das entspricht auch nicht ihrem Mandat. Es ist ein für Europa gefährlicher und für dessen Wettbewerbsfähigkeit letztendlich desaströser Weg. Wer zieht da die Notbremse?

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