Roman

Die ganze Welt ist Bühne

Anne Enright hat derzeit eines der feinsten Händchen für vielschichtige Familiengeschichten.
Anne Enright hat derzeit eines der feinsten Händchen für vielschichtige Familiengeschichten.(c) Dominick Walsh
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„Die Schauspielerin“ zeigt die irische Autorin Anne Enright auf dem Höhepunkt ihres Schaffens und erzählt von einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung.

Unermüdlich schreibt sich Anne Enright in den literarischen Olymp unserer Tage. Nach „Das Familientreffen“ und „Rosaleens Fest“ legt sie mit „Die Schauspielerin“ ihr neues Buch vor. Im Mittelpunkt steht die schwierige Beziehung zwischen der Schauspielerin Katherine O´Dell und ihrer Tochter Norah. „Wenn sie Marmeladentoast aß, war sie wie jeder andere Mensch, der Marmeladentoast isst“, schreibt die Tochter. Um dann eingehend zu schildern, dass sie genau das eben nicht war.

Denn selbst das Essen eines Marmeladentoasts war Inszenierung. So wie das ganze Leben der großen irischen Schauspielerin, die in Wahrheit aus Südlondon stammt und deren Familienname Odell erst durch den Fehler eines Schriftsetzers seine gälische Veredelung erhält. Die roten Haare, die grünen Kleider, der Dubliner Akzent – „Man durfte sie nennen, wie man wollte, solang man sie keine Engländerin nannte, denn das wäre eine schlimme Beleidigung gewesen. Und außerdem, leider, die Wahrheit.“

Zugleich ist es die Grundlage für ihre Karriere, erst auf der Bühne in London, Dublin und New York, später sogar in Hollywood. Als Mary Felicitas in dem Stück „Gebet vor dem Morgen“ rührte sie nicht nur das Publikum auf dem Broadway zu Tränen, „der letzte Kuss des Paares hätte einen Bischof erröten lassen“. Die Verfilmung des Rührstücks um den verwundeten US-Soldaten Mulligan und die resolute irische Krankenschwester hinter der Front in Frankreich im Zweiten Weltkrieg begründete ihren Ruhm.


Mit 45 Jahren erledigt. Der Preis dafür ist hoch. Gleichermaßen machtversessene wie ruchlose Agenten übernehmen Katherines Leben. Aus Imagegründen wird sie mit 21 Jahren mit einem homosexuellen Alkoholiker verheiratet, dessen Eskapaden ein tragisches Ende nehmen: „Achtzehn Monate stellten sie für die Presse das Leben nach, dem meine Mutter immer hinterhergetrauert hatte.“ Die Rollen, die sie möchte, bekommt sie nicht; jene, die sie bekommt, möchte sie nicht: „In Wahrheit war Katherine O'Dell mit fünfundvierzig Jahren fertig. Beruflich. Sexuell. Wenn eine Frau damals dreißig wurde, ging sie nach Hause und zog die Tür hinter sich zu.“

Anne Enright begann die Arbeit an „Die Schauspielerin“ ein Jahr vor dem Auffliegen des Skandals um Harvey Weinstein und der #MeToo-Bewegung. Vieles, was sie beschreibt, liest sich prophetisch. Nie hat die Mutter der Tochter verraten, wer ihr Vater war. Den Vater sucht die Erzählerin genauso wie das wahre Wesen ihrer Mutter. „Die Leute fragen mich: Wie war sie?“, lautet der erste Satz des Romans. Doch mehr noch möchte die Tochter von ihrer Mutter wissen: Wer war sie?

Die Suche nach den Eltern wird für die Tochter zu einer intensiven Suche nach sich selbst, mit nicht immer gelungenen Versuchen der Selbstbefreiung. Sexuelle Unterdrückung hat nicht nur die Mutter erlebt.

Katherine kehrt aus Hollywood nach Irland zurück – „Meine Mutter flog in diese veränderte Nationalstimmung hinein wie ein Vogel gegen eine Fensterscheibe“ – und muss mit immer würdeloseren Aufträgen durchkommen. Bald ist sie auf Demos der Iren gegen die Engländer zu sehen, in der ersten Reihe, mit Kopftuch von Hermès.


Schuss in den Fuß. Am Ende wirbt Katherine für irische Butter. Was könnte irischer sein? Noch ein Kreis schließt sich da: Mit Butter-Schmuggel aus Irland in das vom Krieg ausgehungerte London hatte der Großvater einst sein Geld gemacht. Katherine hat für diese Pointe aber längst keinen Sinn mehr: Nachdem sie einem selbstherrlichen Filmproduzenten, der ihr vor Jahrzehnten eine Rolle verweigert hatte, „einfach, weil er es konnte“, in den Fuß schießt, wird sie in eine Anstalt eingewiesen. Gezeichnet von Alkohol und Tabletten stirbt sie mit 58 Jahren.

Nur: Das alles hat noch eine weitere Drehung. Aber die sei hier nicht verraten. Stattdessen eine dringende Empfehlung für ein Buch, für das gilt, was Autorin Enright Tochter Norah über ihre Mutter Katherine sagen lässt: „Glücklich war sie nie, aber sie hat eine verdammt gute Show abgezogen.“

Neu Erschienen

Anne Enright
„Die Schauspielerin“

Übersetzt von Eva Bonné

Penguin Verlag

304 Seiten

22,70 Euro

Penguin Verlag

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2020)

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