Subtext

Selbst Kant ist seit Neuestem Rassist

Durch das Aufzeigen dunkler Punkte in der Biografie von Berühmten kann man eine Art moralische Überlegenheit demonstrieren.

Kaum hat man sich an Robert Musils Feststellung gewöhnt, wonach nichts so unsichtbar sei wie ein Denkmal, purzeln schon Statuen. In London muss man das Denkmal von Winston Churchill schützen: Kein Zweifel, ein Heiliger war er nicht. Sein Flirt mit dem italienischen Faschismus ist belegt, und bei Unterhausdebatten spürte man, dass er Parlamente eher beherrschen als erdulden wollte.

Sein Sarkasmus war legendär und wird in Memoiren zitiert: Als ihm eine Tory-Abgeordnete den Satz „Wenn ich mit Ihnen verheiratet wäre, würde ich Ihnen Gift in den Tee schütten“ an den Kopf warf, soll er bloß gesagt haben: „Wenn ich mit Ihnen verheiratet wäre, würde ich den Tee mit Vergnügen trinken.“

Mussolinis Genugtuung

Besser belegt ist eine andere Begebenheit, die Harold Macmillan in seinen Erinnerungen wiedergibt. Mussolini genieße, meinte Churchill, trotz des für Italien katastrophalen Kriegsverlaufs eine gewisse persönliche Genugtuung. Als er die Verblüffung Macmillans merkte, erklärte Churchill: „Er war klug genug, seinen Schwiegersohn erschießen zu lassen!“ Zur Erklärung: Churchills Tochter war mit Vic Oliver verheiratet, einem aus Österreich stammenden Unterhaltungskünstler. Der Schwiegervater schien mit dieser Verbindung seiner Tochter nicht restlos glücklich gewesen zu sein.

Im Ernst: Wer in Großbritannien an Winston Churchill etwas auszusetzen hat, sollte einen Blick in die „Sonderfahndungsliste Großbritannien“ werfen. Sie ist im Internet abrufbar. Fast 3000 Persönlichkeiten enthält sie, die nach der geplanten Invasion sofort zu verhaften seien. Die Aufzählung reicht von Friedrich Adler über Robert Baden-Powell, Charles de Gaulle, Richard Coudenhove-Kalergi, Sigmund Freud, Aldous Huxley und Oskar Kokoschka bis zu Bertrand Russell, Chaim Weizmann, H. G. Wells, Carl Zuckmayer und Stefan Zweig.

Selbst Vic Oliver, den ungeliebten Schwiegersohn, hatte das Reichssicherheitshauptamt nicht vergessen. Churchills Unbeugsamkeit verhinderte, dass über dem britischen Parlament die Reichskriegsflagge gehisst worden wäre. Vom Eiffelturm baumelte sie schon.

Die Welt ist simpel geworden

Warum stürzt und beschmiert man dennoch Denkmäler? Erstens geht vom Einsturz jedes hoch aufragenden Bauwerks für die Zuseherinnen und Zuseher eine unleugbare Faszination aus – die Tiefenpsychologie möge das interpretieren. Zweitens kann man durch das Aufzeigen dunkler Punkte in der Biografie von Berühmten eine Art moralische Überlegenheit, eine Definitionsmacht demonstrieren. Und letztlich bieten schlagwortträchtige Zitate ein bequemeres Werkzeug als das Gesamtbild einer Persönlichkeit. Selbst Kant ist seit Neuestem ein Rassist. Die Welt ist simpel geworden. Aufklärung sieht anders aus.

Statuen an belebten Plätzen werden beschmiert. In seinem großen Roman schreibt Musil betrübt von „Schnellhistorikern“, die, einer bestimmten Tiergattung gleich, „zu ihren gemeinen Zwecken vor allem belebte Ecken aufsuchen“ – ein Vergleich, so unschön, dass er mir nie über die Lippen käme.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2020)

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