Ökonom Hauner über die Krise

„Diese Krise offenbart die Ungleichheit“

David Hauner: „Krisen sind auch Wendepunkte in der gesellschaftlichen Betrachtungsweise.“
David Hauner: „Krisen sind auch Wendepunkte in der gesellschaftlichen Betrachtungsweise.“Michele Pauty
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Der österreichische Ökonom David Hauner arbeitet bei der Bank of America in London und ist Experte für Schwellenländer. Es habe sich gezeigt, dass der Markt nicht alles regelt, sagt er. Staatliche Interventionen und nationale Sicherheit gewinnen an Bedeutung.

Die Presse: Was bedeutet die Coronakrise für den Standort Europa? Wo sehen Sie die größten Veränderungen auf uns zukommen?

David Hauner: Den Entscheidungsträgern in Brüssel und in den Hauptstädten ist in höherem Maße die strategische Schwäche Europas bewusst geworden. Europa ist in vielen Bereichen abhängig. Das wurde uns vor allem bei Medikamenten und Schutzmasken deutlich vor Augen geführt. Aber auch in strategischen industriellen Sektoren ist die Abhängigkeit groß geworden. Diese Krise hat zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten wieder Überlegungen von nationaler Sicherheit in den Vordergrund gerückt. Und bei nationaler Sicherheit geht es nicht nur um militärische, sondern auch um wirtschaftliche und soziale Aspekte.

Überlegungen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den Hintergrund gerückt sind.

Die prägende Ideologie der vergangenen 30 Jahre lautete: Der effiziente Markt organisiert alles von selbst.

Und diese Ideologie stellt nun ausgerechnet ein Banken-Ökonom infrage?

Das glaubt natürlich der traditionelle Volkswirt nach wie vor in hohem Maße. Aber das Thema nationale Sicherheit aus einem wirtschaftlichen Blickwinkel wird uns auch in Europa verstärkt beschäftigen. In den USA ist es ja immer präsent gewesen. Und rückt nun in der Krise weiter in den Vordergrund.

Der Staat mischt sich also stärker auch in Unternehmensbereiche ein.

Ja, das führte etwa dazu, dass Akquisitionen von europäischen Unternehmen in Schlüsselbranchen geprüft und genehmigt werden müssen. Das ist eine große Veränderung, die vor ein paar Jahren so nicht denkbar gewesen wäre.

Braucht es also doch eine staatliche Kontrolle?

Als China vor vielen Jahren der Welthandelsorganisation WTO beigetreten ist, sind fast alle Experten davon ausgegangen, dass sich das Land am Ende zu einer westlichen Volkswirtschaft entwickeln würde. Diese Prognose hat sich als falsch herausgestellt. Und diese Fehleinschätzung ist auch der Grund für die vielen wirtschaftspolitischen Spannungen der Gegenwart. Denn in China spielen strategische Überlegungen immer eine Rolle. Der Grundsatz „Der Markt regelt alles“ stimmt also allein deshalb nicht mehr, weil mit China einer der größten Player in der globalen Volkswirtschaft nach anderen Spielregeln spielt. Und deshalb müssen wir uns anpassen.

China konterkariert also das wirtschaftsliberale Weltbild. Nur China? Hat die Marktwirtschaft jetzt in der Krise nicht auch in Europa und in den USA massiven Gegenwind?

Ja, es haben sich die Perspektiven verändern. In den USA vielleicht stärker als in Europa. Gerade im angelsächsischen Raum gibt es vermehrt Stimmen, die nun eine Eindämmung des Wirtschaftsliberalismus fordern.

Aber hatten wir diese Debatte über Verteilungsgerechtigkeit nicht nach jeder Wirtschaftskrise?

Sie hat aber an Schärfe gewonnen. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit in den USA ist viel höher als bei der Finanzkrise. Und diese Krise offenbart die Ungleichheit viel klarer. Jene, die besser verdienen, sind auch jene, die in hohem Maße von zu Hause aus arbeiten können. Die wirklich neue Dimension ist aber, dass wir uns viel stärker selbst versorgen sollten.

Welche neuen Entwicklungen zeichnen sich Ihrer Meinung nach ab?

Es wird sicher vermehrt darum gehen, Produktionen im eigenen Land zu halten, Autarkie wird eine größere Rolle spielen, staatliche Interventionen werden schon allein deshalb zunehmen, weil viele Sektoren staatliche Hilfe brauchen. Es wird auch dazu führen – und das ist gut so –, dass die sozialen Netze verstärkt werden.

Aber staatliche Medizin hat ja bekanntlich auch ziemlich unangenehme Nebenwirkungen.

Der klassische Ökonom würde sagen, dass dies natürlich die wirtschaftliche Effizienz reduzieren werde. Das ist eine gesellschaftliche Entscheidung.

Auf jeden Fall eine Entscheidung gegen die Finanzmärkte.

Es wird wie in den 1970er-Jahren wohl eine Periode auf uns zukommen, in der sich der Finanzmarkt für eine längere Zeit seitwärts bewegt.

Wie werden sich Unternehmen verändern?

Natürlich werden sich diese stärker auf sozial verantwortliche und nachhaltige Produktion fokussieren müssen. Krisen sind ja in der Regel auch Wendepunkte in der gesellschaftlichen Betrachtungsweise. Diese Krise wird einen ohnehin bestehenden Trend weiter verstärken: nämlich, dass Unternehmen nicht nur ihre Profite maximieren sollen, sondern eine breitere Verantwortung übernehmen werden. Ökologie und Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern sind schon jetzt sehr wichtige Punkte. Heute kann kein Konzernchef an die Öffentlichkeit treten, ohne dass er diese Themen anspricht.

Aber am Ende wird ein CEO noch immer an seiner wirtschaftlichen Performance gemessen.

Wir haben Tausende Aktiengesellschaften untersucht und kamen zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass nachhaltige Unternehmen tatsächlich auch besser performen. Ich persönlich bin ohnehin davon überzeugt: Unternehmen, die ihre Mitarbeiter gut behandeln, behandeln auch ihre Kunden besser. Und mittlerweile achten institutionelle Investoren auf diese Aspekte – vor allem in Nordeuropa. Man kann fast keine Fonds mehr verkaufen, die in sogenannte böse Aktien investieren. Und das wirkt sich langfristig natürlich aus. Für Unternehmen, die sich nicht an diese Kriterien halten, wird die Aufnahme von Kapital in Zukunft teurer.

Das sind jetzt langfristige Veränderungen. Dabei wissen Politiker und Unternehmer nicht einmal, was dieses Jahr bringen wird.

Ja, aber eigentlich können wir in diesem Fall die Kristallkugel ruhig zur Seite legen und schauen, was in Asien passiert ist. Und das ist relativ ermutigend. In China sind viele Bereiche der Wirtschaft de facto wieder im Normalzustand, etwa die Industrie und der Immobilienmarkt. Noch weit vom Normalzustand entfernt sind Gastronomie und der ganze Vergnügungsbereich. Und natürlich liegt der Flugverkehr noch immer um ein Drittel niedriger als vor Corona.

Das hieße ja, dass die Erholung in Sicht ist.

Sie wird in den kommenden Monaten vergleichsweise gut ausschauen, man wird aber relativ schnell feststellen, dass es Normalität nur mit einem Impfstoff geben wird. Auf den hoffen wir alle. Laut unseren Prognosen werden die Industrieländer mindestens zwei, wenn nicht drei Jahre brauchen, um wieder zurückzukommen. Aber das natürlich nur unter der Annahme, dass es einen Impfstoff geben wird.

Sämtliche Prognosen basieren also auf der Annahme, dass ein Impfstoff verfügbar sein wird. Werden sich Dinge auch trotz eines Impfstoffes ändern?

Es werden viele Immobilienfirmen merken, dass die Nachfrage nach Büros zurückgehen wird. Auch mit Impfstoff. Auch die Shopping-Center, die schon vor Covid-19 unter dem Onlinehandel gelitten haben, werden Probleme bekommen. Restaurants ebenfalls. In Österreich ist das vielleicht noch nicht so dramatisch. Aber in London hat man das Gefühl, dass die Leute überhaupt nicht mehr essen gehen und alles nur noch zugestellt wird. Ja, der Impfstoff wird kommen, und dennoch wird es bleibende Veränderungen geben.

Wie kann es sein, dass innerhalb eines halben Jahres Gesellschaften ihr Verhalten verändern – obwohl es am Ende gar nicht mehr nötig wäre?

Es gibt eine interessante Studie aus London. Hier fällt ja bekanntlich häufig die U-Bahn aus. Wenn eine Linie eine längere Zeit gesperrt ist und die Leute anders fahren müssen, dann ändern zehn Prozent der Leute ihr Verhalten für immer, auch wenn die U-Bahn wieder fährt. So ähnlich geht es uns nun mit Covid-19. Man braucht sich ja nur die Entwicklung des Home-Office anzusehen. Früher herrschte die Meinung vor, dass die Leute im Home-Office vermutlich weniger leisten, schlechter motiviert sind. Jetzt sieht man, dass das nicht stimmt. Home-Office wirkt sich ja nicht nur auf den Immobilienmarkt aus. Büroausstatter, die Gastronomie rund um die Büros, Dienstleister, sie werden das massiv spüren. Wenn die Leute nicht mehr so viel pendeln, werden sie auch weniger Autos brauchen. Viele merken jetzt, wie unnötig so manche Dienstreise in der Vergangenheit war.

Es wird also weniger geflogen, weniger in Hotels genächtigt werden.

Das ist ja nicht alles schlecht. Es ist zumindest positiv für die Umwelt und für die Lebensqualität der Mitarbeiter. Es wird eine kulturelle Veränderung geben, die auch ohne Covid-Krise möglich gewesen wäre. Die technischen Mittel dafür gab es ja längst. Aber jetzt waren wir gezwungen, darüber nachzudenken, wie es auch anders gehen kann.

ZUR PERSON

David Hauner ist seit 2008 Chefökonom für Schwellenländer bei der Bank of America in London, Spezialgebiet China und Osteuropa. Seit sieben Jahren belegt er Platz eins bei der wichtigsten Branchenumfrage „Institutional Investor Survey“.

Der Österreicher arbeitete zuvor für den Internationalen Währungsfonds in Washington. Hauner studierte an der Uni Wien, der Essec Business School in Paris und der Stanford University. Er lehrt Emerging Market Finance an der WU Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2020)

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