View of a deserted construction site in Brussels
Fokus auf
Europa vertiefen

Eine Großbaustelle namens Europa

In diesem Dossier beleuchtet die „Presse“-Redaktion den Umgang der EU mit der Corona-Krise und die Suche nach Antworten auf so essenzielle Fragen wie: Was ist Europa? Und: Wo will es hin?von Josef Urschitz, Nicole Stern, Michael Laczynski, Jeannine Hierländer, Matthias Auer, Jakob Zirm und Gerhard Hofer.

Dieses Dossier wurde von der „Presse”-Redaktion in Unabhängigkeit gestaltet.

Es ist mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten sowie des Bundeskanzleramts möglich geworden und daher auch frei zugänglich.

Die EU-Länder stecken in einer Sinnkrise und müssen sich endlich entscheiden, ob sie in Nationalstaatlerei und damit in Bedeutungslosigkeit zurückfallen oder den begonnenen Integrationsprozess zu einem erfolgreichen Ende führen wollen.

von Josef Urschitz

„Europa“, soll der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger einmal gesagt haben, „hat das Zeug zur Supermacht, aber weder die Organisation noch das Konzept dazu.“ Gut beobachtet, möchte man meinen.

In der Tat haben viele Bürger dieses Kontinents auf zwei ganz essenzielle Fragen keine zufriedenstellende Antwort: Was ist Europa? Und: Wo will es hin?

Tatsächlich ist Europa in Gestalt seiner Europäischen Union eine große Idee: ein Friedensprojekt, das seinen in den vergangenen Jahrhunderten doch recht streitbaren Nationen unter anderem mittels engster wirtschaftlicher Verflechtung die „Kriegsfähigkeit“ genommen hat. Ein Wirtschaftsprojekt, das den größten Binnenmarkt der Welt geschaffen hat. Ein politisches Projekt, das erstmals in der Geschichte den ganzen Kontinent auf Basis der Freiwilligkeit umfassend kooperieren lässt.

Eine großartige Idee. Und dennoch steckt dieses einmalige Experiment in einer tiefen Sinnkrise: Obwohl wirtschaftlich sehr potent, ist die Union geopolitisch völlig abgemeldet. Sie kann das Vakuum, das der sukzessive Rückzug der absteigenden Supermacht USA hinterlässt, nicht füllen. Sie steht den politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen der kommenden Supermacht China hilflos gegenüber, sie gerät bei Zukunftstechnologien ins Hintertreffen, ja sie schafft nicht einmal die „Basics“ eines politischen Gemeinwesens. Etwa den Schutz der Außengrenzen.

Und sie gerät zunehmend durch ein Wiedererstarken von Nationalismen und rechtspopulistischem Kleinkrämertum in Gefahr. Die Zentrifugalkräfte nehmen stark zu, was zuletzt im Brexit, dem Austritt Großbritanniens aus der Union, kulminierte.

Wobei es durchaus äußerst unterschiedliche Zugänge gibt. Vereinfacht gesagt: Diejenigen, die draußen sind, wollen – wie die Westbalkanstaaten – unbedingt hinein. Bei denen, die schon drinnen sind, kämpfen immer mehr mit nationalistischen und populistischen Sezessionsbestrebungen.

Kurzum: In der Bevölkerung bröckelt die Europabegeisterung, weil das europäische Projekt als Veranstaltung der Eliten gesehen wird. Und „Elite“ ist in diesem Kontext kein positiv besetztes Wort. Sondern ein Synonym für arrogantes, bürokratisches „Drüberfahren“. Die Architekten der großen europäischen Idee haben es verabsäumt, die Bevölkerungen von Anfang an mitzunehmen. Und die nationalen Regierungen, die via EU-Rat noch immer die eigentlichen Dominatoren der Union sind, haben viel dazu beigetragen. Mit der sattsam bekannten Attitüde, positive Dinge dem eigenen Konto gutzuschreiben, während für Unangenehmes „die EU“ verantwortlich ist.

Insgesamt ist das eine eher üble Situation. Denn das europäische Projekt ist, 68 Jahre nach der Gründung der Montanunion, noch immer eine riesige Baustelle. Eine Baustelle, die derzeit stillsteht. Und bei der sich die Bauherren bald entscheiden müssen: Wollen wir den Bau fertigstellen oder reißen wir den Rohbau wieder ab?

Kurzum: Die EU steht vor einer entscheidenden Weggabelung. Der eine Weg führt zurück in die nationale Kleinstaaterei und damit in den völligen geopolitischen und wirtschaftlichen Bedeutungsverlust. Der andere Weg nennt sich „Vertiefung“ und führt letztendlich in irgendeine Art von föderalen Vereinigten Staaten von Europa. Das muss man in dieser Klarheit sagen, auch wenn es wenig gibt, was in den Bevölkerungen der EU-Staaten derzeit unpopulärer wäre als die weitere Abgabe von nationaler Souveränität an Brüssel.

Dieser Diskussion müssen sich jetzt alle stellen. Es muss klar sein, dass sich die Frage „Staatenbund oder Bundesstaat“ nicht mit „Machen wir einfach so weiter wie bisher“ beantworten lässt. Wir haben derzeit nämlich eine Art politisches Zwitterwesen: einen Staatenbund mit starken bundesstaatlichen Elementen. Den Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten etwa oder die Gemeinschaftswährung. Beiden fehlt aber die bundesstaatliche Struktur, also etwa eine Art europäischer Wirtschafts- und Finanzminister. Von einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (deren Fehlen sich unter anderem in Hilflosigkeit gegenüber der irregulären Migration manifestiert), reden wir da noch gar nicht.

Ohne solche Strukturen lassen sich bundesstaatliche Elemente aber nicht auf Dauer aufrechterhalten. „Zurück in die Nationalstaatlerei“ bedeutet also nicht nur das Ende des Euro, sondern auch des Binnenmarktes und der Reisefreiheit im Schengenraum. Wollen wir das? Wenn wir das Projekt Europa vertiefen und damit erfolgreich weiterführen wollen, muss allerdings an den Fundamenten neu gebaut werden. Gegen die Bürger lässt sich eine weitere Integration nicht durchziehen, das sollte unterdessen klar geworden sein. Und diese Bürger haben zurzeit eben mehrheitlich den (so sicherlich falschen) Eindruck, dass sie es mit einem fernen Bürokratiemoloch zu tun haben, dem sie hilflos ausgeliefert sind.

Wenn die Union ein Erfolg werden soll, dann muss es in Richtung Bürgerunion gehen. Das bedeutet, dass die seltsame Drei-Uneinigkeit von Kommission, Rat und europäischem Parlament, die Henry Kissinger angeblich zur bissigen Bemerkung veranlasst hat, er wisse nicht, wen er anrufen solle, wenn er „Europa“ am Apparat haben wolle, aufgelöst und durch ein funktionierendes demokratisches System mit echtem europäischem Parlamentarismus abgelöst werden muss. Man muss klar sagen, dass die derzeitige Struktur, besonders die dominierende Stellung des von nationalen Interessen geleiteten Rats, eines der größten Hindernisse für die Vertiefung der Union ist.

Erst wenn dieses Problem gelöst ist, kann man sinnvollerweise den Rest angehen. Dazu gehört die Definition, was jetzt wirklich der Gemeinschaft übertragen werden soll und was die demokratisch gestärkten Regionen besser können. Dann kann man sich endlich auch den verbliebenen Schwachstellen in der ansonsten recht weit fortgeschrittenen wirtschaftlichen Integration widmen. Etwa den Schwächen im Bereich Digitalisierung, Innovation, Bildung, und deren Finanzierung. Oder den Hindernissen auf dem Weg zu Firmengründung und Kapitalbeschaffung, die den Aufholprozess bremsen.

Und man kann dann auch versuchen, Europabewusstsein in den Köpfen der Entscheidungsträger zu schaffen. Ein kleiner Hinweis: Solang Warenlieferungen von Österreich nach Deutschland oder von Frankreich nach Spanien in offiziellen Statistiken als „Export“ geführt werden, ist Europa auch in den Köpfen der Entscheidungsträger noch nicht wirklich angekommen.

Europa steckt in einer Sackgasse. Wir sollten da herauskommen. Und zwar in die richtige Richtung. Diese heißt mehr und nicht weniger Gemeinschaft. Aber auf dem Weg dahin ist noch viel zu tun. Und wenn es nicht gelingt, die Bürger mitzunehmen, sind alle Anstrengungen vergebens.


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