Buchbesprechung

„Paradise City“: Wo die Algorithmen entscheiden

Die vielseitige Zoë Beck ist als Schriftstellerin, Übersetzerin und Verlegerin erfolgreich.
Die vielseitige Zoë Beck ist als Schriftstellerin, Übersetzerin und Verlegerin erfolgreich.(c) Victoria Tomaschko
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Zoë Beck zählt zu den besten deutschen Krimiautorinnen. Mit „Paradise City“ geht sie nun einen Schritt weiter. Ihr dystopischer Roman lässt sich in keine Genre-Schublade stecken.

Bislang hat sich Zoë Beck vor allem einen Namen als Autorin ausgezeichneter Kriminalromane gemacht. Technik spielte dabei in ihren zeit- und sozialkritischen Thrillern immer eine wichtige Rolle. In „Die Lieferantin“ ging es um Drogenhandel per Drohne und in „Brixton Hill“ um ein Luxus-Hochhaus, in dem der Strom ausfällt. Mit „Paradise City“ macht die in Berlin lebende Deutsche so gesehen nun eigentlich nur einen weiteren logischen Schritt.

Das Buch spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der Algorithmen – und nicht die Politik – über viele Bereiche des Lebens entscheiden. Deutschland, das von Seuchen und Umweltkatastrophen heimgesucht wurde, befindet sich endlich wieder im Aufschwung. Der Regierungssitz wurde nach Frankfurt verlegt, Berlin dient nur mehr als Kulisse für Touristen. Es scheint eine schöne neue Welt zu sein, die hier entstanden ist. Bloß sollte man keinen zweiten Blick darauf werfen.

Bürgerrechte? Kein Interesse. Die Demokratie, wie wir sie kennen, hat in der jahrzehntelangen Krisenzeit massiv gelitten. Für Bürgerrechte scheint sich niemand mehr zu interessieren. Staatliche Nachrichtenagenturen beherrschen die Medienlandschaft. Unabhängiger Journalismus, dessen Hauptrolle mittlerweile darin besteht, Fake News aufzudecken und den Wahrheitsgehalt der staatlichen Quellen zu hinterfragen, wird von allen Seiten in Verruf gebracht. An investigativen Journalismus ist kaum mehr zu denken. Ohnehin glaubt niemand mehr an die Existenz einer objektiven Wahrheit: „Der Mensch glaubt sowieso nur, was er glauben will“, heißt es an einer Stelle. Das Gesundheitssystem basiert auf schwer nachvollziehbaren Entscheidungen, die eine Software trifft; auf Datenschutz beharrt nur, wer etwas zu verbergen hat. Wer sogenannte Videoblocker verwendet, um die automatische Gesichtserkennung zu verhindern, macht sich verdächtig.

Liina ist Rechercheurin bei Gallus, einem der letzten nichtstaatlichen Nachrichtenportale. Als sie in die Provinz geschickt wird, um den ungewöhnlichen Fall einer angeblichen Schakal-Attacke zu untersuchen, fühlt sie sich von ihrem Chef ausgebootet. Als dieser kurz darauf bei einem seltsamen Unfall beinahe stirbt, wird Liina aber langsam klar, dass es bei all dem um viel mehr gehen dürfte – und dass auch sie selbst, die vor Jahren eine lebenswichtige Organtransplantation erhalten hat, dabei eine wichtige Rolle spielt.

Die vielseitige Autorin, die auch Bücher von Genre-Größen wie Gerald Seymour und Denise Mina übersetzt hat, als Synchron-Regisseurin sowie als Verlegerin (CulturBooks) tätig ist, hat in „Paradise City“ nicht bloß die Handlung in die Zukunft verlegt. Ihr dystopischer Roman lässt sich in keine Schublade stecken. Es mag zwar Thriller auf dem Cover stehen, doch das Buch ist viel mehr als bloße Spannungsliteratur. Es macht nachdenklich und hinterlässt Spuren, Liinas Leidensweg berührt. Becks Stärke liegt darin, diesen nicht voyeuristisch auszuschlachten, sondern Stück für Stück ihre Figur begreifbar zu machen. Puzzleteil für Puzzleteil wird die Persönlichkeit offenbart – inklusive all der Rätsel, die jedem Individuum anhaften, wie gut man es auch zu kennen glaubt.

Ebenso wie ihrem Kriminalschriftsteller-Kollegen Tom Hillenbrand („Drohnenland“, „Hologrammatica“, „Qube“) gelingt es Beck perfekt, einen faszinierenden Blick in eine mögliche Zukunft zu werfen. Und ihre Botschaft ist klar: So düster und maschinengetrieben die Welt dann auch sein mag, letztlich zählt doch vor allem die Menschlichkeit.

Apokalypse ohne Helden. Auffällig ist, dass neben Liina nahezu alle relevanten Charaktere der fesselnden Geschichte Frauen sind – Beck steht damit im besten Sinne in der Tradition der großartigen Margaret Atwood. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der wichtigste Mann, Liinas Chef, bezeichnenderweise zum Opfer wird. Zoë Beck bestätigt eindrucksvoll: Apokalyptische Szenarien kommen auch ganz gut ohne einsame, schweigsame Cowboys aus.

(c) Suhrkamp Verlag

Neu Erschienen

Zoë Beck
„Paradise City"

Suhrkamp Verlag, 280 Seiten, 16,50 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2020)

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