Im Kino

Ein Mann und eine Frau, 54 Jahre später

„Wollen Sie mit mir abhauen?“, fragt Jean-Louis im Seniorenheim seine Besucherin Anne; sie tun es auch – doch nur in seinen Träumen: Jean-Louis Trintignant (89) und Anouk Aimée (88) in „Die schönsten Jahre eines Lebens“.
„Wollen Sie mit mir abhauen?“, fragt Jean-Louis im Seniorenheim seine Besucherin Anne; sie tun es auch – doch nur in seinen Träumen: Jean-Louis Trintignant (89) und Anouk Aimée (88) in „Die schönsten Jahre eines Lebens“.(c) Polyfilm
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Claude Lelouch bringt das legendäre Liebespaar aus „Ein Mann und eine Frau“ (1966) wieder zusammen, mit einem schmerzhaft greisen Jean-Louis Trintignant, einer erhabenen Anouk Aimée: Ein ergreifendes Wagnis.

Eine hochgewachsene alte Frau steht in Claude Lelouchs neuem Film „Die schönsten Jahre eines Lebens“ an der Rezeption. „Zimmer 26 bitte“, sagt sie. „Sie haben reserviert?“ – „Ja, vor 50 Jahren.“

Genau gesagt sind es noch mehr. 1966 standen Jean Louis-Trintignant und Anouk Aimée gemeinsam für eines der berührendsten Liebesdramen der Filmgeschichte vor der Kamera. Preise regneten: die Goldene Palme in Cannes, zwei Oscars und ein Golden Globe, dazu ein Academy Award für Anouk Aimée. Ebenfalls legendär wurde die Titelmelodie, das Debüt des Filmkomponisten Francis Lai, der wenige Jahre später für die Musik zu „Love Story“ einen Oscar bekommen sollte. Sie war bereits vor den Dreharbeiten für einzelne Szenen festgelegt: So folgten die Schauspieler in ihrem Spiel den Stimmungen der Musik.

So schlicht wie der Titel „Un homme et une femme“ („Ein Mann und eine Frau“) ist die Geschichte. Es geht um die Annäherung zwischen dem Rallyefahrer Jean-Louis und dem Scriptgirl Anne, beide Mitte dreißig, verwitwet, Alleinerzieher. Zwischen ihnen steht anfangs die Erinnerung an Annes Ehepartner. In langen Kameraeinstellungen, oft auf Autofahrten, lässt Regisseur Claude Lelouch vor allem die Gesichter der Hauptdarsteller vom Aufkeimen einer großen Liebe erzählen: Anouks schweren Blick, Trintignants bubenhaft beglücktes Lächeln.

Hier wird Filmgeschichte geschrieben

Schon einmal drehte Claude Lelouch, heute 82, eine Fortsetzung seines Films, sie hieß „Ein Mann und eine Frau – 20 Jahre später“. Doch erst diese zweite (nur an den ersten Film anschließende) Fortsetzung hat das Zeug, Filmgeschichte zu schreiben, so unerwartet ist sie nach so langer Zeit. Wann hat es einer gewagt, ein legendäres Liebespaar nach so vielen Jahrzehnten, in so hohem Alter noch einmal vor die Kamera zu holen?

Gleichaltrig wirkten die zwei noch 1966, das ist hier kaum zu glauben, so schmächtig und zerbrechlich sitzt Trintignant in seinem Rollstuhl. Noch älter sieht der Schauspieler aus als seine 89 Jahre, gezeichnet vom Krebs, auch in der Realität kann er sich kaum noch bewegen. Eindringlich aber sind noch die Stimme, der Blick, das Lächeln – das im Lauf des Films immer öfter zu sehen sein wird, wenn Anouk Aimée als Anne bei ihm sitzt. Ihr sieht man die 88 Jahre nicht an, sie ist eine große, aufrechte Erscheinung, mit immer noch schönem Gesicht. Im Film haben sich die beiden jahrzehntelang nicht gesehen, die Beziehung hielt nicht lang. Jean-Louis' Sohn hat Anne nun gebeten, den Vater zu besuchen: Sie ist die einzige Person, an die er sich erinnert, von der er spricht.

Anne als Polizistenmörderin

„Die schönsten Jahre eines Lebens“ lebt natürlich auch vom alten Film: von dessen Szenen und Melodien, die Lelouch als Erinnerungssequenzen in die monotone Szenerie des Altersheims einbauen kann. Zwischendurch aber sieht man auch die zwei Alten auf Autofahrten, sogar an frühere Erinnerungsorte wie Monte Carlo oder das eingangs erwähnte Hotel Normandy. Da gibt es einiges an Situationskomik, der alte Mann lebt auf, wird sogar schelmisch. Aber spätestens wenn er oder sie die Pistole herausholt – zum Beispiel um einen Polizisten zu erschießen, der sie wegen Schnellfahrens aufgehalten hat –, weiß man: Das ist einer von Jean-Louis' glücklichen Träumen, ausgelöst durch die Gespräche mit seiner Besucherin.

Und so wie dramaturgisch auch hier wieder Autofahrten eine zentrale Rolle spielen, arbeitet Claude Lelouch auch hier wieder mit den Gesichtern, erzählt anhand wundervoller, auch zärtlich komischer Dialoge, wie der von Alzheimer geplagte Jean-Louis langsam erkennt, mit wem er es zu tun hat. Er vergisst es auch immer wieder, und dennoch: Das Leben kehrt in ihn zurück. Weniger um ihre als um seine Liebe, seine Befindlichkeit geht es diesmal. Dieser alte Jean-Louis hat immer noch einen unglaublichen Charme, aber er ist auch wehleidig und ichbezogen; und er weiß ganz gut, wie er seine Umgebung ein wenig manipuliert, etwa indem er seinen Erinnerungsverlust übertreibt. „Sehen Sie die kleine Tür?“, sagt er in ihrem ersten Gespräch. „Ich komme jeden Tag hierher, um sie mir anzusehen.“ Weil er seine Flucht plane. Sein „Wollen Sie mit mir abhauen?“ wiederholt sich ebenso wie sein „Was machen Sie hier?“ und: „Was haben Sie dauernd mit meinem Sohn? Ich habe keinen Sohn!“ Dann wieder wird Jean-Louis' Konversation, Alzheimer hin oder her, völlig bizarr: „Ich mache sehr gern Pipi! Wenn ich reich wäre, würde ich ständig Pipi machen.“

Feier des verklärten Lebens

Zu den Gesichtern, Gesprächen, Autofahrten kommen die vertrauten Melodien – und Gedichte. An die kann sich Jean-Louis erinnern, so wie an Anne, er murmelt sie vor sich hin, bezirzt damit seine Ärztin. „Soll ich Ihnen ein Gedicht sagen, das ich geschrieben habe?“, fragt er Anne. „Das ist mein ganzes Werk, mehr habe ich nicht geschrieben.“ Auch der Titel „Die schönsten Jahre eines Lebens“ ist ein Zitat, Victor Hugo zufolge sind es „die Jahre, die man noch nicht gelebt hat“.

Ja, im Zweifelsfall ergreift dieser Film Partei gegen die Realität, feiert ein durch Träume verklärtes Leben. Aber bei dieser Wiedervereinigung von Anouk Aimée und Jean-Louis Trintignant vor der Kamera weiß man nicht, was hier das größere Wunder ist – die fiktive Begegnung oder die reale.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.07.2020)

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