Präsidentenwahl

Wahl in Belarus: Die Frau, die den Diktator herausfordert

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Swetlana Tichanowskaja fordert Langzeitherrscher Lukaschenko heraus. Anfangs trat sie an als Ersatz für ihren verhafteten Mann. Jetzt ist sie selbst das Symbol der Hoffnung auf Veränderung.

Und am Schluss sangen Zehntausende „Mury“, eine alte Hymne der Solidarność. Der polnische Sänger Jacek Kaczmarski trug den Song einst unter Gitarrenbegleitung vor. Ein leises Protestlied und dennoch sehr dramatisch. Es geht um Veränderungen, und dass man, wenn man sie will, nicht auf sie warten darf. „Zerstöre die Gefängnismauern“, heißt es in der russischen Version. „Wenn du Freiheit willst, nimm sie dir!“ Mehr als 40 Jahre nach Kaczmarski erklang das Lied am Donnerstagabend in einem Park in der belarussischen Hauptstadt Minsk. Dazu schwenkten die Menschen Handytaschenlampen und Feuerzeuge. Ein Lichtermeer in der Dunkelheit. „Die Mauer wird schnell einstürzen – und begräbt unter sich die alte Welt!“

Bilder der wogenden Menschenmenge werden auch Tage später in sozialen Medien geteilt, bestaunt und mit Herzchen versehen. Mehr als 60.000 Menschen sollen dort gewesen sein. Seit mindestens einem Jahrzehnt hat es nicht mehr eine solch große Kundgebung in dem autoritär regierten Land gegeben. Der Wunsch nach Veränderung war noch nie so sichtbar wie an diesem lauen Sommerabend im Völkerfreundschaftspark.

Symbolisiert die Hoffnung auf Veränderung: Swetlana Tichanowskaja bei einer Kundgebung.
Symbolisiert die Hoffnung auf Veränderung: Swetlana Tichanowskaja bei einer Kundgebung.Sergei Grits / AP / picturedesk.


Allen Schikanen zum Trotz. All die sich überschlagenden Ereignisse der vergangenen Wochen, die Verhaftungswelle und üblen Schikanen haben die Bürger nicht abgehalten herzukommen: zu der Bühne, auf der drei Frauen stehen und Reden halten. Swetlana Tichanowskaja ist die Hauptprotagonistin. Flankiert wird sie von ihren beiden Mitstreiterinnen: Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo. Zepkalo vertritt ihren Mann, einen nicht zugelassenen Kandidaten bei der Präsidentenwahl in einer Woche. Er ist mit den Kindern nach Russland geflohen. Kolesnikowa leitet den Stab des nicht registrierten Kandidaten Viktor Babariko. Babariko wurde verhaftet. Tichanowskaja kandidiert anstelle ihres Mannes, ein bekannter Videoblogger, der seit Ende Mai in U-Haft sitzt. Sie alle sind Neopolitikerinnen wider Willen. Doch sie haben sich verbündet. „Gemeinsam“ lautete ihre Devise. Das Frauentrio fordert niemand Geringeren als Präsident Alexander Lukaschenko heraus, der seit 26 Jahren im Amt ist. Es geht um Veränderung.

„Ich bin nicht der Macht wegen in die Politik gegangen, sondern der Gerechtigkeit wegen“, sagt Tichanowskaja. Sie trägt einen unauffälligen cremefarbenen Hosenanzug. Die Farbe weiß ist Programm: Sie hat ihre Anhänger aufgerufen, am Wahltag weiße Bändchen zu tragen. „Damit wir uns erkennen und sehen, dass wir viele sind.“ Ihr Versprechen: Sollte sie gewinnen, wolle sie innerhalb eines halben Jahres faire Wahlen mit allen ausgeschlossenen Kandidaten organisieren.

Besucht seine Anhängerschaft: Amtsinhaber Alexander Lukaschenko.
Besucht seine Anhängerschaft: Amtsinhaber Alexander Lukaschenko.REUTERS

Nicht einmal der Söldnerskandal scheint das Momentum von Minsk stoppen zu können. „Keiner glaubt hier, dass die Kämpfer wegen unserer Wahlen gekommen sind“, sagte die 37-Jährige dazu. Zur Wochenmitte waren 33 Russen festgenommen worden. Die Behörden werfen den Männern vor, als Kämpfer einer Privatarmee das Land destabilisieren zu wollen. Stimmen die Vorwürfe? Oder sind sie Teil einer Inszenierung, mit der Lukaschenko ein Klima der Angst verbreiten will? Dass die Vorwürfe gegen Tichanowskajas Ehemann Sergej nun gemeinsam mit der Söldnercausa in ein großes Verfahren gepackt worden sind, zeigt die Entschlossenheit des Regimes. Doch die Angstmache vor Erschütterungen, vor der „russischen Gefahr“ oder einem prowestlichen Maidan erzielt in der Bevölkerung weniger Wirkung als früher.

Belarus erlebt in diesem Sommer seinen einheimischen Aufstand gegen das System. Tichanowskaja ist kein Teil der traditionellen Opposition. Sie ist nicht einmal Politikerin. Die bisherige Lehrerin ist eine Quereinsteigerin ohne Erfahrung und ohne eindeutiges Programm. All das ist in der gegenwärtigen Lage nicht unbedingt ein Nachteil, denn viele Bürger sind geneigt, dem Präsidenten einen Denkzettel zu verpassen. Ähnlich wie schon beim Outsider Wolodymyr Selenskij in der benachbarten Ukraine kann jeder in ihr etwas anderes sehen. Doch für alle Unzufriedenen ist sie ein Hoffnungsschimmer, dass sich etwas bewegen könnte in dem rigide geführten Land, dessen immer wieder von oben angepriesene Stabilität sich in Stagnation verwandelt hat. Und dessen Präsident sich mit den Jahren immer weiter von den Problemen der Bürger entfernt hat. Mit seiner Leugnung der Coronakrise, in der er zu Traktorfahren und Saunagängen geraten hat, ist er für viele untragbar geworden.


Kinder sicher in einem EU-Land. In Belarus kann es gefährlich sein, gegen den Präsidenten öffentlich das Wort zu erheben. Auch für Tichanowskaja steht viel auf dem Spiel. Sie hat ihre beiden Kinder außer Landes bringen lassen, in ein EU-Land, um sie zu schützen. Zu Beginn der Kampagne erhielt sie Drohungen. Fast hätte sie aufgegeben. Doch dann machte sie weiter. Ihr Mut und ihre Unmittelbarkeit machen sie zur Heldin, zur „Jeanne d'Arc von Minsk“, wie der nicht zugelassene Kandidat Zepkalo sagte.

Dass Tichanowskaja überhaupt als Kandidatin registriert worden ist, hat sie vermutlich ihrem Geschlecht zu verdanken. Eine Frau, noch dazu eine Stellvertreterin ihres Mannes, kann nur eine schwache Kandidatin sein, dürfte man in Minsk gedacht haben. Politik wird in Belarus noch immer als Männersache wahrgenommen. Eine Frau sei nicht geeignet für das Amt des Präsidenten, sie würde unter der Last der Aufgaben zusammenbrechen, beschied der Amtsinhaber. Auch Tichanowskaja betont immer wieder, dass ihre Kandidatur aus der Not geboren sei. Eine recht brav wirkende Ansage, ganz im Einklang mit einem traditionellen Geschlechterverhältnis. Doch ihre Kraft liegt in der Wirkung: Da sehen viele eine Frau, die für ihren Mann und ihr Land kämpft. Auch die Zusammenlegung der drei Stäbe, aus der das besagte Frauentrio entstand, war ein Clou. Frauen schaffen Dinge, die männliche Aktivisten bisher nicht konnten.

In einem fairen Urnengang hätte Tichanowskaja wohl Chancen auf die Stichwahl. Doch die belarussische Wahlrealität folgt anderen Gesetzen. An einen Sieg glaubt vermutlich nicht einmal ihr Kampagnenstab. Tichanowskaja ruft die Bürger jetzt zur direkten Stimmabgabe auf, zur Kontrolle ihrer Wahl. Je eindeutiger man Manipulationen nachweisen kann, desto mehr Munition haben die Aktivisten in ihren Händen. Und dann? Nach dem nächsten Sonntag könnte der Geist der Veränderung schnell erstickt werden. Auch das Schicksal der drei Frauen erscheint zusehends ungewiss.

Fakten

Fünf Kandidaten sind zur Präsidentenwahl am 9. August zugelassen: Neben Amtsinhaber Alexander Lukaschenko sind das die Quereinsteigerin Swetlana Tichanowskaja, die bisherige Parlamentsabgeordnete Hanna Konopatskaja, der Sozialdemokrat Sergej Tscheratschen sowie Andrej Dmitrijew von der Bewegung „Sag die Wahrheit“. Mehreren Kandidaten wurde die Zulassung verweigert. Zwei nicht registrierte Kandidaten sind in Haft. Bei Kundgebungen der letzten Wochen wurden mehrere Hundert Bürger, Blogger und Journalisten in Gewahrsam genommen.

Internationale Wahlbeobachter der OSZE wurden dieses Mal nicht nach Belarus eingeladen. Die Führung hat einheimische Beobachter zugelassen, mehrheitlich eine Proforma-Angelegenheit. Befürchtet werden Manipulationen bei Stimmabgabe und Auszählung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2020)

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