Nach den gewaltigen Detonationen nahe des Hafens am Dienstag gibt es erste Hinweise auf die Ursache. Die Explosionen, bei denen nach letzten Angaben mindestens 100 Menschen getötet und knapp 4000 verletzt wurden, waren laut Augenzeugen „wie eine Atombombe“.
Beirut/Tunis. Eine sehr große Menge Ammoniumnitrat könnte nach Einschätzung des libanesischen Ministerpräsidenten Hassan Diab die Detonation in Beirut mit Dutzenden Toten und Tausenden Verletzten verursacht haben. Es sei "unvertretbar", dass eine Ladung von schätzungsweise 2750 Tonnen der Substanz in einer Halle am Hafen gelagert worden sei, sagte Diab in der Nacht zum Mittwoch dem Präsidialamt zufolge. Der Stoff sei dort sechs Jahre lang ohne Sicherheitsvorkehrungen gelagert worden. Ammoniumnitrat, das auch zur Herstellung von Sprengsätzen dienen kann, kann bei höheren Temperaturen detonieren. Die Substanz dient zum Raketenantrieb und vor allem zur Herstellung von Düngemittel.
Schon am Dienstag hatte Hassan Diab erklärt, er wolle die Verantwortlichen "zur Rechenschaft ziehen". Diese würden "für diese Katastrophe den Preis bezahlen", sagte Diab in einer Fernsehansprache.
Bei den zwei gigantischen Detonation am Dienstagnachmittag hatte sich jedenfalls eine riesige Pilzwolke am Himmel gebildet. Hochhäuser schwankten, Balkone krachten zu Boden, Fenster rissen aus ihren Verankerungen. Auf der Stadtautobahn entlang der Corniche von Beirut türmten sich zerbeulte Autos mit aufgerissenen Türen und aufgeblasenen Airbags. Weite Teile des Hafens und seiner Umgebung waren übersäht mit Ziegeln, Betonteilen und zerborstenen Containern. Die Detonationen waren bis in das 240 Kilometer entfernte Zypern zu hören.
Handyvideos zeigten eine riesige Staub- und Feuerwalze, die sich über die umliegenden Wohnviertel wälzte. „Es war wie eine Atombombe“, sagte einer der Augenzeugen, ein 43-jähriger Lehrer. Nach Angaben des Roten Kreuzes von Mittwoch Vormittag ist die Zahl der Todesopfer auf 100 gestiegen, nach offiziellen angaben wurden fast 4000 Menschen verletzt. Viele Menschen dürften noch unter den Trümmern eingeschlossen sein.
Blutüberströmt und unter Schock
Blutüberströmte Passanten irrten unter Schock durch die Straßen. Zahlreiche Besatzungsmitglieder von im Hafen liegenden Schiffen wurden durch die Druckwelle herumgeschleudert und verletzt. In dem hafennahen Einkaufsviertel Hamra blieb kaum ein Geschäft, Café oder Restaurant unbeschädigt. Gebäudeteile lösten sich, Schaufenster gingen zu Bruch. Autos wurden von Trümmern getroffen. Das Gesundheitssystem ist mit der Versorgung der Verletzten schwer überfordert, viele Krankenhäuser sind schwer beschädigt.
Die verheerende Katastrophe trifft den Libanon zu einem Zeitpunkt, an dem das Land in der schwersten Wirtschafts- und Staatskrise seit dem Ende des Bürgerkriegs 1990 steckt. Der Zedernstaat, einst gepriesen als „die Schweiz des Orients“, ist bankrott. In seinem maroden Banksystem sind mindestens 80 Milliarden Dollar versickert, wahrscheinlich sehr viel mehr. Der Wert der libanesischen Lira fällt seit Monaten ins Bodenlose, die Gehälter haben mittlerweile 80 Prozent ihrer Kaufkraft eingebüßt.
Breite Teile der Bevölkerung haben wegen der Inflation ihre Ersparnisse verloren. Die Hälfte aller Libanesen lebt an der Armutsgrenze. Immer mehr Geschäfte müssen schließen. Krankenhäuser können ihr Personal nicht mehr bezahlen, während die Zahl der Corona-Infektionen seit Anfang Juli rasant steigt. Weite Teile des Landes sind jeden Tag bis zu 20 Stunden ohne Strom. Selbst die Hauptstadt Beirut liegt abends weitgehend im Dunkeln. Stinkende Müllberge stapeln sich in den Straßen. Die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) stecken in einer Sackgasse, weil sich Beiruts politische Klasse nicht auf ein Reformprogramm einigen kann.
Zudem will das „Sondertribunal für den Libanon“ (STL) in Den Haag Freitag dieser Woche nach sechs Jahren Prozess das Urteil im Hariri-Prozess verkünden. Vor 15 Jahren wurde der Milliardär und langjährige Ministerpräsident Rafik Hariri in Beirut durch eine Zwei-Tonnen-Lastwagenbombe getötet, die eine ganze Häuserzeile in Schutt und Asche legte. Mit ihm starben damals 21 Menschen, 226 wurden verletzt. Angeklagt sind vier Tatverdächtige der Hisbollah. Alle sind untergetaucht, niemand ist bis heute gefasst. Und so könnten die Urteile angesichts der aufgewühlten Lage im Land die Spannungen zwischen der schiitischen Hisbollah und den sunnitischen Libanesen neu entfachen.
Hilfsangebote aus EU und Israel
Derweil trafen aus aller Welt Hilfszusagen ein. Sowohl die EU als auch Frankreich stellten dem Libanon Hilfe in Aussicht. "Die Europäische Union ist bereit, Hilfe und Unterstützung zu leisten", teilte EU-Ratspräsident Charles Michel am Dienstagabend mit. Frankreich schicke Hilfe in den Libanon, schrieb der französische Staatschef Emmanuel Macron am Dienstagabend auf Twitter. Der heutige Libanon war früher Teil des französischen Mandatsgebiets im Nahen Osten, die beiden Länder haben immer noch eine enge Beziehung.
Auch das Nachbarland Israel bot humanitäre Hilfe an. "Unter Anweisung von Verteidigungsminister Benny Gantz und Außenminister Gabi Ashkenasi hat Israel sich an den Libanon durch internationale diplomatische und Verteidigungs-Kanäle gewandt", teilten beide Minister in einer gemeinsamen Stellungnahme mit. Der libanesischen Regierung sei "medizinische humanitäre Hilfe" angeboten worden.