Roman

Südtiroler Behauptungskampf: Marco Balzanos "Ich bleibe hier"

Marco Balzano sorgte mit „Ich bleibe hier in Italien für einiges Aufsehen.
Marco Balzano sorgte mit „Ich bleibe hier in Italien für einiges Aufsehen.Geri Krischker / Diogenes Verlag
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Der italienische Schriftsteller erzählt von einem Südtiroler Bergdorf zwischen wechselnden Fronten und Zeiten.

Um die schönsten Flecken Erde ranken sich oft die schmerzlichsten Geschichten. Vier Jahre, nachdem Südtirol 1918 Italien zugeschlagen worden war, setzte mit der Machtergreifung des Faschismus ein Programm der gewaltsamen Italianisierung ein. In seinem preisgekrönten Roman „Ich bleibe hier“ erzählt der Mailänder Schriftsteller Marco Balzano, wie die Menschen aus der Bahn geworfen wurden: „Sogar die Toten haben sie gestört, diese Mörder.“ Aufgerieben zwischen Hitler und Mussolini wurde der Krieg überstanden, nicht aber die existenzielle Bedrohung einer über Jahrhunderte gewachsenen Gemeinschaft.

Erzählt wird das Buch von Trina, die Rückschau auf ihr Leben hält. Aufgewachsen in Graun im Vinschgau ist sie die Erste aus einer Bauernfamilie, die eine höhere Ausbildung absolvieren darf. Doch aus dem Traum der respektierten Dorflehrerin wird nichts. Die Muttersprache Deutsch wird von den Faschisten verboten, die Traditionen werden zerstört: „Von einem Tag zum anderen standen in der Klasse Lehrer aus Venetien, aus der Lombardei und aus Sizilien vor uns. Sie verstanden uns nicht, und wir verstanden sie nicht.“

Deutsch zu sprechen und zu unterrichten wurde zu einem Akt des Widerstands: „Ich wollte Lehrerin werden, aber nicht für die Sprache der anderen!“, schimpft Trinas Freundin Maja. Gemeinsam mit Kollegin Barbara unterrichten die drei jungen Lehrerinnen in „Katakombenschulen“ auf Deutsch. Die Erfolge unter den wortkargen Dörflern sind mäßig, der Preis ist hoch. Barbara fliegt auf und wird ausgerechnet am Tag von Trinas Hochzeit nach Süditalien deportiert.


Überflutung alter Orte. Zur radikalen Umformung Südtirols durch die italienischen Faschisten gehören groß anlegte Industrialisierungspläne. In der Ebene um die Landeshauptstadt werden Großbetriebe wie der Autohersteller Lancia angesiedelt. Der Strom für die neuen Produktionsstätten soll in den Bergen gewonnen werden. In Graun und bis hinauf zum Reschenpass an der Grenze zu Österreich beginnen Arbeiten an einem Wasserkraftwerk, dessen Stausee die alten Orte unter sich zu begraben droht. Für manchen galt nun: „Auf Adolf Hitler zu hoffen war die einzige Rebellion.“

Tatsächlich vereinbaren die Diktatoren Hitler und Mussolini 1939 die sogenannte große Option, die deutschsprachigen Südtirolern die Möglichkeit eröffnete, „heim ins Reich“ zu kehren. Im Dorf wird gefeiert, doch bald schon weicht der Jubel der Ernüchterung. Die Dorfbewohner in die Zwangslage zu bringen, sich den italienischen Faschisten zu unterwerfen oder sich an die deutschen Nazis ranzuschmeißen, reißt unüberbrückbare Gräben in die Dorfgemeinschaft.

Trina und ihr Mann Erich beschließen zu bleiben. Sie verlieren die geliebte Tochter, der Sohn wird zum Nazi. Schließlich wird Erich von den Italienern eingezogen. Wider Erwarten kehrt er zurück. Balzano lässt da zwischen Trina und Erich so etwas wie einen Hauch Zuneigung entstehen. Zu mehr als kargen Worten und rauen Gesten sind die Menschen, die über Jahrhunderte so hart geworden sind wie die Steine, denen sie ihr Leben abgepresst haben, nicht fähig.


Keiner findet Frieden. Vor der neuerlichen Einziehung durch die Deutschen flüchten Trina und Erich ins Hochgebirge, wo sie bis zum Kriegsende ausharren. Doch Frieden finden weder das Dorf Graun noch Erich, der nunmehr ebenso unerschütterlich wie unbeholfen gegen den Kraftwerksbau kämpft. Sogar Italienisch lernt er, aber die richtigen Worte findet er nicht. Andere wollen sie nicht finden. Heute ist von dem alten Ort nichts mehr übrig als der Glockenturm, der wie ein Menetekel aus dem Stausee ragt. Balzano hat der Erinnerung an die Menschen mit seinem Buch ein Denkmal errichtet.

Neu erschienen

Marco Balzano
Ich bleibe hier

Übersetzt von Maja Pflug

Diogenes Verlag

288 Seiten

22,70 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2020)

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