Expertin Olga Dryndowa befürchtet im „Presse"-Gespräch eine Verhärtung des belarussischen Regimes sowie eine Repressionswelle.
Die Presse: Wie beschreiben Sie die Stimmung in Belarus?
Olga Dryndowa: Es gibt derzeit zwei getrennte Lebensrealitäten: Tag und Nacht. Tagsüber geht man arbeiten. Nachts finden brutale Auseinandersetzungen mit Spezialkräften statt. Viele fragen mich: Ist das nicht normal in einer Autokratie? Nein, in Belarus ist dieses Gewaltausmaß nicht normal. Menschen wurden höchstens geschlagen, nicht beschossen. Nach drei Nächten habe ich den Eindruck, dass jede Nacht noch gewalttätiger wird, damit sich niemand mehr auf die Straße traut. Es werden Menschen wahllos verprügelt – zum Beispiel ein Mann, der mit seinem Hund Gassi ging.
Das Durchhaltevermögen der Bürger überrascht. Was sind die Hintergründe dieser Politisierung und Selbstorganisation?
Die belarussische Gesellschaft hat sich schon vor den Wahlen verändert. Eine Politisierung und Solidarisierung sehen wir seit Beginn der Coronakrise. Viele Menschen fanden die Verharmlosung der Pandemie durch den Staat nicht lustig. Sie fühlten sich nicht geschützt. Nach Beginn der Pandemie waren die Krankenhäuser überfüllt, Menschen starben. Für jeden war die Diskrepanz zwischen dem offiziellen Diskurs und dem, was sie in ihrer Nähe sahen, evident. Zudem verärgerten viele die respektlosen Aussagen des Präsidenten über die Opfer der Pandemie. Wie etwa: Wären die Menschen zu Hause geblieben, wären sie nicht gestorben. Die Empörung und Unzufriedenheit hat sich auf die Präsidentschaftskampagne übertragen. Sie wurde politisch. Dazu kommt: Ehrenamtliche Aktionen halfen Krankenhäusern – was doch eigentlich die Aufgabe des Gesundheitsministeriums gewesen wäre. Die Belarussen sahen, dass sie solidarisch sein können. Verbindungen zwischen Menschen wurden gestärkt.