Ist die Provinz ignoranter als die Stadt?
Geschichten des Jahres

Landleben oder: Die Ordnung der Dinge

Das Dorf ist vielleicht keine gute Schule für Gemeinsinn, aber durchaus ein geeigneter Ort, um zu proben, wie das ist, wenn man nicht in allen Empfindlich- und Begehrlichkeiten ernst genommen wird. Provinz: eine Rückkehr auf Zeit.

Geschichten des Jahres. Dieser Text ist am 14. August 2020 erschienen.

Mein Nachdenken über das Leben in der österreichischen Provinz wollte ich eigentlich mit dem Satz „Wir haben jetzt einen Kater“ beginnen lassen. Dann kam mir aber ein kurzer Besuch in einem Klagenfurter Bilderrahmengeschäft dazwischen: einem kleinen, edlen, traditionsreichen Laden, in dem sich, an einem heißen Samstagvormittag, unzählige potenzielle Kunden anstellten. Darunter ich, mit einem Bild meines Vaters als Rollerfahrer in den 1950er-Jahren in Ludmannsdorf. Eine rund 75-jährige Dame mit roten Turnschuhen prüfte die Geduld aller Wartenden, indem sie ihre gerahmten Bilder, darunter einen echten Werner Berg, im Detail studieren wollte, bevor sie es zuließ, dass man sie ihr endgültig einpackte. Während sie sich an ihrer frisch gerahmten Kunst delektierte, erzählte sie permanent (mit einem Auge in die Menge schielend) irgendetwas, unter anderem, dass in ihrer Wohnung sehr viele Bilder hingen und so weiter und so fort. Geschichten voller Selbstheroisierung.

Die Dame mit den roten Schuhen jedenfalls – alles recht mondän an ihr auf den ersten Blick – gab sich beredt weltoffen und kultiviert und war dabei so offensichtlich der Inbegriff der Provinz und ihrer Unerträglichkeit, dass ich mit dieser kurzen Rekapitulation des Ausflugs nach Klagenfurt anfangen musste, bevor ich zum eigentlichen ersten Satz, dem mit dem Kater, zurückkommen kann.

Also: Wir haben jetzt einen Kater. Ich lebe nämlich kurzzeitig auf dem Land, in der tiefen zweisprachigen Kärntner Provinz, wo slowenische Aufschriften nach wie vor das Potenzial haben, die Gemüter zu erregen und Politiker, die sonst nicht durch radikale Kulturferne auffällig geworden sind, dazu bringen können, sich der Dumpfheit der Menschen zu beugen. Es ist eigentlich nicht zu glauben. Dennoch: verschwendete Lebenszeit, sich darüber zu ärgern. „Dieses geheime Donnergrollen, das zu nichts führt und einen auf den Zustand eines lächerlichen Vulkans reduziert“, schreibt E. M. Cioran. Es herrscht in manchen Hirnen schlicht eine sehr große, nicht zu behebende Armut: Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Und mit der Vorstellung des immer schon überprivilegierten Kärntner Slowenen, der auf Kosten des immer schon unterprivilegierten Deutschkärntners lebt – mit der muss rechnen, wer im schönen Kärnten lebt.

Ich gehe inzwischen sogar so weit, diese fixe Idee zu bestätigen und hinzuzufügen: Das Slowenische, es ist eine freilich völlig nutzlose, dazu äußerst gefährliche Sprache, sie macht einen Jugoslawen aus dir, so schnell kannst du gar nicht schauen. Der Schriftsteller Drago Jančar, der jüngst mit dem Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur ausgezeichnet wurde, schreibt zur Frage der kulturellen und sprachlichen Vielfalt: „Ein kultureller, also schöpferischer oder zumindest neugieriger Mensch ist per definitionem multikulturell. Kultur, wenn sie wirklich Kultur ist, ist niemals Monokultur. Monokultur ist eine Frage für Agronomen, nicht für kreative Menschen.“

Warum überhaupt aus der Stadt aufs Land? Weil ich mich dazu entschlossen habe, für ein paar Wochen mehr Zeit und weniger Arbeit haben zu wollen – und auf dem Land kann man dem weniger aufwendig frönen. Eine bloße Luxusanwandlung das Ganze, ganz klar. Mehr Zeit wofür? Für die Familie. Wie schrecklich klischiert das klingt. Für das Kind. Den Partner. Sich selbst. Und so weiter. Und dann kommt man drauf, dieses Mehr an Zeit birgt Tücken: Man erfährt sich und die anderen ausführlicher, als man es erträgt, nur zum Beispiel. Und das Leben selbst ist doch schon Zumutung genug. Auf der einen Seite. Aber eigentlich wollte ich etwas über die Provinz schreiben.

Ich trage mich mit einer, ja, durchaus ausgeprägten Verachtung, ich muss es so sagen, all jenen gegenüber, die sich für waschechte Dörfler halten. Aber auch die, die sich als wahre Städter inszenieren, sind nicht zu ertragen. Ich bevorzuge die von Klaus Merz (den ich für einen der feinsten Autoren unserer Zeit halte) entworfene Möglichkeit: auf dem Dorf eine Städterin, in der Stadt eine Dörflerin.

Überhaupt lebe ich seit je – nicht ungern, aber auch nicht freiwillig – im Widerspruch und mit Widersprüchen. Und in Gegnerschaft zu der Idee des Echten, Wahren, Unverfälschten, Schönen und Guten: Die hat die Menschheit immer schon in den Ruin getrieben, hält sich aber unglaublich hartnäckig – das Böse ist eben sehr zäh. Und für die, die ihre Landgärten und Stadtgärten regelmäßig posten, für die habe ich vor nicht allzu langer Zeit den Begriff der „Gartenfaschisten“ geprägt. Nicht alle haben das lustig gefunden. Nach meinem Empfinden und nach meiner Wahrnehmung habe ich diese Begrifflichkeit aber eher aus Notwehr in die Welt gesetzt.

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