Der gelöschte Name

Sasha Filipenkos Romandebüt, „Rote Kreuze“, erzählt eindringlich und historisch gehaltvoll von der Russin Tatjana, einer Überlebenden des Stalin-Terrors.

Freunde kann man sich aussuchen, Nachbarn nicht, weiß ein lebenskundlicher Allgemeinplatz. In Sasha Filipenkos Romanerstling erweist sich die Nachbarschaft zu einer über 90-jährigen Russin für den jungen Zuzügler Alexander in einem Minsker Mietshaus nachgerade als Glücksfall. Anfänglich als lästig empfunden, werden die Erzählungen und Berichte der körperlich hinfälligen Greisin für ihn bald überaus fesselnd.

Die Begegnung im Hausgang und dann in Alexanders Wohnung ist indes nur die Rahmenhandlung für einen Monolog voll zeitgeschichtlich aufschlussreicher Rückblenden. Die alte Dame namens Tatjana gehörte nämlich zu den Verfolgten von Stalins Terrorregime. Ihrem immer neugieriger werdenden Nachbarn weiß sie darüber Haarsträubendes aus ihrem wechselvollen persönlichen Erleben mitzuteilen.

Dem Roten Kreuz in Genf kommt eine Schlüsselrolle in ihrem Bericht zu. Denn Tatjana war in den Kriegsjahren 1941 bis 1945 in Moskau als Sekretärin im Außenministerium tätig. Durch ihre Hände liefen die Genfer Gefangenenlisten, die für einen möglichen Austausch von Sowjetsoldaten an ihre Dienststelle gesandt und dort von Außenminister Molotow konsequent ignoriert wurden. Hier stützt sich der Autor auf Archivfunde, die ihm bezeichnenderweise nicht in Moskau, sondern in Genf in die Hände fielen. Das Rote Kreuz hat jeden an die sowjetische Regierung gerichteten Brief samt Protokoll über die verweigerten Moskauer Reaktionen aufbewahrt. Mit diesen Dokumenten des Menschenrechtskomitees in Genf, die er im Roman ausführlich zitiert, hat Filipenko die Grundlage für seine (halb)fiktive Geschichte der Sekretärin Tatjana gefunden, der unter Stalin nach dem Krieg Schreckliches widerfährt.

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