Frankreich hat im Libanon heute nicht das negative Image einer einstigen Besatzungsmacht. Hochkommissar Maxime Weygand 1923 in Beirut.
Geschichte

Libanon: Gute alte Kolonialzeit?

In der Krise erscheint vielen Libanesen die Zeit vor hundert Jahren, als ihr Staat entstand und Frankreich als Kolonialmacht die Hoheit im Land innehatte, als gute alte Zeit.

Reisende preisen den Libanon gern als das „Land der Zedern und der Phönizier“. Doch es ist sehr lang her, dass die seefahrenden Phönizier mit dem Holz der Zedern ihre Schiffe bauten, mit dem Staat Libanon, der sehr jung ist – er entstand erst 1920 – hat das alles nichts zu tun. Weder in der Antike noch im Mittelalter gab es eine territoriale Einheit Libanon, die auch nur annähernd mit dem heutigen Staat in eins zu setzen wäre. Autoren, die dem Libanon eine Kontinuität von den phönizischen Städten der Antike bis heute zuschreiben, liegen ebenso falsch wie solche, die das Land als rein künstliches Konstrukt ohne jegliche historische Legitimation sehen.

Heute hat der Staat eine völlig diskreditierte Führungselite. Die Gegenwart erscheint als traumatisch, die Libanesen begrüßten nach dem Explosionsunglück den französischen Staatspräsidenten, Emmanuel Macron, wie eine letzte Hoffnung. In den sozialen Medien wurde sogar die Rückkehr Frankreichs als Mandatsmacht wie 1920 gefordert, eine Online-Petition, die das forderte, erhielt in kürzester Zeit 60.000 Unterschriften. „Komm und bring das Mandat mit, diese Unabhängigkeit wollen wir nicht“, hieß es. War die Mandatszeit wirklich so golden, dass man sich Macron als „Hochkommissar“ vorstellen könnte? Im Jahr 2020? Viele Probleme des Landes konnten freilich auch die Franzosen damals nicht lösen.

Humanitäre Intervention Europas

Erst 1861 etablierte sich innerhalb des Osmanischen Großreichs und in den Grenzen des heutigen Libanon eine autonome Region, sie wurde Libanon-Berg genannt und entstand durch eine humanitäre Intervention europäischer Staaten, es war wohl das erste Einschreiten dieser Art durch eine internationale Kommission. Die bürgerkriegsähnlichen Konflikte zwischen christlichen Maroniten und islamischen Drusen waren unerträglich, 60 Dörfer in der Nähe von Beirut wurden zerstört.

Die Massaker in den religiös gemischten Gebieten waren so beunruhigend, dass auch der österreichische Staatskanzler, Fürst Metternich, intervenierte, um das Leben der Christen zu retten. Auch ein französisches Expeditionskorps trat für die Autonomie unter einem christlichen Pascha ein, in den französischen Parlamentsdebatten war das Thema einer humanitären Aktion auf der Tagesordnung. Die Osmanen mussten nachgeben und den 11.000 Maroniten und Drusen ein eigenes Statut zugestehen, das sie vom ebenfalls osmanisch beherrschten Syrien abtrennte. Alle sechs Religionsgruppen waren in einem Verwaltungsrat vertreten.

Es gab viele Gründe, warum die Bildung von Nationalstaaten im gesamten Nahen Osten schwierig war. Eine nationalistische panarabische Bewegung scheiterte an den partikularistischen Interessen tribaler oder konfessioneller Gruppen. Dazu kam der Widerstand der Siegermächte Frankreich und Großbritannien, die wirtschaftliche Interessen in der Region hatten und die Proklamation von Staaten nur unter der Ägide von Mandatsmächten zuließen.

Wie sollte es so zu einem libanesischen „nation building“ kommen? Wenn man nach Eric Hobsbawm davon ausgeht, dass Nationsbildung Ergebnis einer tief in der Geschichte verwurzelten, gleichsam angestammten Gemeinschaft ist, eröffnen sich hier keine Möglichkeiten. Dennoch entstand eine nationalistische Bewegung, die den Libanon als Staat etablieren wollte. Ein solcher würde die Chance bieten, eine Heimstätte der Christen im Nahen Osten zu sein und als Zuflucht für verfolgte Minderheiten ein Zusammenleben zu gewähren. Das Libanongebirge sei schon immer ein Refugium gegen Übergriffe islamischer Führer gewesen: So die historisch nicht ganz richtige Legitimierung eines neuen Staats. Wenig wahrscheinlich, dass die sunnitischen Muslime in den Küstenstädten des Landes diese ideologische Selbstbeschreibung akzeptieren würden. Doch bei den Friedenskonferenzen von Paris 1919 hörte man diese Argumente.

Nun kamen die Franzosen ins Spiel. Wer sich fragt, warum der ehemalige Präsident François Hollande sich so vehement für eine Intervention im syrischen Bürgerkrieg einsetzte und warum zuletzt Emmanuel Macron die schockierten Menschen besuchte, muss in die Geschichte des Jahres 1920 zurückblicken. Damals wurden die aus dem zerfallenen Osmanischen Reich herausgelösten arabischen Gebiete zwischen England und Frankreich aufgeteilt, das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 ging in die Geschichtsbücher ein. Die Franzosen bekamen durch die Konferenz von Sanremo vom Völkerbund das Mandat über Syrien zugeteilt, es umfasste das heutige Syrien, den Libanon und Hatay, eine türkische Provinz.

Damit war ein alter Traum von Frankreich erfüllt, das seit Jahrhunderten versucht hatte, in der Levante Fuß zu fassen, als Erbe der Kreuzfahrer und Protektor über die christlichen Kirchen im Orient. Die Franzosen waren sich der Schwierigkeiten dieses Mandats, das bis 1943 bestand, damals nicht bewusst. Ihre Erfahrungen aus Marokko und Algerien waren hier nicht anwendbar. Die Hochkommissare wurden der arabischen Rebellion drei Jahre lang nicht Herr. Von der christlichen Gemeinde im Libanon wurden sie aber als Befreier begrüßt. Als der französische General Henri Gouraud das syrische Mandat in sechs Staaten aufteilte, entstand Großlibanon mit Beirut als Hauptstadt, der Vorläufer der modernen libanesischen Republik, mit dem zur bedeutenden Hafenstadt angewachsenen Beirut und einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit.

In diesem „Grand Liban“ wurden die französischen Verwaltungs- und Wirtschaftsstrukturen importiert, ein Schulsystem nach französischem Vorbild eingerichtet, Französisch war weitverbreitet und ist es bis heute. Charles de Gaulle war in den 1930er-Jahren militärischer Ausbilder in Beirut. 20.000 Libanesen kämpften als Freiwillige auf der Seite Frankreichs gegen Hitler.

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