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Der falsche Pfarrer als echter Christ

Corpus Christi
Corpus ChristiStadtkino
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Ein junger Gauner gibt sich in „Corpus Christi“ als Geistlicher aus – und macht eine wundersame Wandlung durch. Der polnische Film ist eine tiefsinnige, mitreißende Parabel.

Die Verwandlung ist im Christentum ein zentrales Motiv. Bei jeder Messe transformieren laut katholischer Vorstellung Brot und Wein zum Leib und Blut Christi. Die Glaubensgemeinschaft wird dadurch zu dessen Gliedern, zum Corpus Christi mysticum. Zu Fronleichnam (von „fro“, mittelhochdeutsch für Herr), dem katholischen Fest der Eucharistie, des Messopfers, tragen die Gläubigen das Allerheiligste, also die Hostie – damit den Leib des Herrn – in einer Prozession durch Straßen und Felder. Wie passend, dass „Corpus Christi“ mit einer Fronleichnamsprozession endet, der ein mehrfacher Verwandlungsprozess vorausgegangen ist. Ein ehemaliger Straftäter, den man als unempfindsam und opportunistisch kennengelernt hat, ist zum empathischen und rebellischen Pfarrer transformiert. Seine Gemeinde ist auf dem besten Weg, zwei Sündenböcke, denen sie die alleinige Schuld für einen Verkehrsunfall mit vielen Toten gibt, zurück in den Gemeinschaftskörper einzugliedern.

Ende gut, alles gut, könnte man meinen. Aber nichts da. Das mit 36 Filmpreisen und einer Auslands-Oscar-Nominierung gewürdigte Drama aus Polen ist kein christliches Märchen, das die Geschichte von Saulus/Paulus wieder aufwärmt. Vielmehr setzt die Berufung des jungen Helden zum passionierten Prediger einen Betrug voraus. In Wirklichkeit ist der feurige Pfaffe, der als Vertretung für den alten, lethargischen Dorfgeistlichen auf Entziehungskur einspringt, ein frisch aus dem Jugendgefängnis entlassener Verbrecher auf Bewährung.

Ein Hochstapler also, der im Knast ein paar dürftige Kenntnisse als Messdiener gesammelt, aber nie ein Priesterseminar besucht hat. Eigentlich soll Daniel (zum Niederknien gut: Bartosz Bielenia) in einem abgelegenen Sägewerk anheuern. Als er nach einer durchzechten Nacht verkatert dort ankommt, flüchtet er jedoch in die nahe gelegene Kirche, wo sich die hübsche Tochter der Pfarrersassistentin von dem schwarzen Hemd mit weißem Piuskragen blenden lässt, das er aus der Tasche zieht. Das Partykostüm vom Vorabend reicht aus: Niemand zweifelt seine vorgegaukelte Identität an.

Wer darf in Gottes Namen sprechen?

Unbewusst scheint man auf einen spirituellen Anführer gewartet zu haben, der sich mit dem kollektiven Schmerz auseinandersetzt, statt ihn zu verdrängen. So sehr, dass die Provinzler sein jugendliches Aussehen und flegelhaftes Benehmen übersehen.

Die zentrale theologische Frage, die Regie-Newcomer Jan Komasa in seinem dritten Langfilm aufwirft, ist spannend: Wer darf sich eigentlich anmaßen, im Namen Gottes zu sprechen? Nur die Gebildeten aus privilegierten Kreisen? Oder auch die gesellschaftlich Benachteiligten, die selten aus freier Entscheidung gesündigt haben, die Armen, Hungernden und Trauernden, die Jesus als „selig“ bezeichnet hat? Es ist eine Frage, die in der Kirche selten gestellt wird, weil sie viele Geistliche in Verlegenheit bringen würde. Und mal angenommen, Jesus war keine mit Wunderkräften ausgestattete Reinkarnation Gottes, sondern bloß ein redegewandter Tischler mit revolutionären Überzeugungen: Hat er sich dann nicht ebenfalls einer ungeheuren Anmaßung schuldig gemacht, indem er sich als Messias präsentierte?

Das brillante, von einer wahren Begebenheit inspirierte Drehbuch von Mateusz Pacewicz übersetzt tiefsinnige und brisante Fragen dieser Art in eine intellektuell anregende und emotional mitreißende Parabel. Sie kommt nie verkopft oder belehrend daher und gestattet sich zuweilen sogar ein paar humoristische Zwischentöne – etwa, wenn Daniel im Beichtstuhl eine Handy-App bemüht, um die richtigen Sätze aufzusagen.

Obwohl man „Corpus Christi“ durchaus als prochristlichen Film ansehen kann, grenzt er sich von bestimmten dogmatischen Wertvorstellungen der katholischen Kirche stark ab. Daniel wird nicht als Heiliger, sondern als Mensch mit fleischlichen Gelüsten und einer starken Neigung zum Exzess porträtiert. Was zählt, ist sein Eintreten für das christliche Ideal einer radikalen Ethik, die vorurteilsfreie Nächstenliebe und die Bereitschaft zur Vergebung propagiert – auch wenn diese Haltung Blut und Tränen kosten kann, wie der Film in teils drastischen Bildern eindrucksvoll demonstriert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2020)

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