Philosophie

Nur ein Streit um Worte – aber um die wichtigsten

Viele zucken in Zeiten von Corona mit den Schultern: Wir können eh nichts wissen, und Wissenschaftler sind um nichts glaubwürdiger als YouTube-Blogger.
Viele zucken in Zeiten von Corona mit den Schultern: Wir können eh nichts wissen, und Wissenschaftler sind um nichts glaubwürdiger als YouTube-Blogger.(c) REUTERS (CHRISTIAN MANG)
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Gibt es Wissen, sollen wir Forschern vertrauen? Geert Keil versucht sich prägnant und gut lesbar an der uralten, hochaktuellen Frage.

Noch im Februar galt jeder als paranoid, der behauptete, das neue Virus werde bald die ganze Welt lahmlegen. Kurz darauf galt jeder als Verschwörungstheoretiker, der die Gefahr und politische Zwangsmaßnahmen dagegen in Zweifel zog. Wie sich Corona vorrangig verbreitet, dazu gibt es alle paar Wochen neue Theorien. Viele zucken deshalb mit den Schultern: Wir können eh nichts wissen, und Wissenschaftler sind um nichts glaubwürdiger als YouTube-Blogger. Eine solche radikale Skepsis haben seit der Antike auch einige Philosophen vertreten. Die meisten ihrer Kollegen aber schreiben tapfer dagegen an – indem sie unsere trüben Begriffe klären.

Also: Was ist Wissen? Für Plato war es eine wahre, gerechtfertigte Überzeugung. Das klingt so einleuchtend, dass man sich lange damit zufriedengab. Bis Edmund Gettier 1963 mit einem kurzen Aufsatz in einem Fachjournal einen Abgrund aufriss und so zu einem der meistzitierten Denker des Jahrhunderts wurde. Ein Gettierfall wäre: Die Bahnhofsuhr zeigt fünf nach elf. Ich denke: Aha, es ist fünf nach elf, ich erreiche noch den Zug. Stimmt auch. Aber die Uhr ist am Vortag zur gleichen Minute stehen geblieben, und es ist nur ein glücklicher Zufall, dass ich gerade jetzt vorbeikomme. Kann ich sagen, dass ich „weiß“, wie spät es ist? Es ist wahr, ich glaube es, aber offenbar ist meine Überzeugung nicht wirklich gerechtfertigt.

Seit Jahrzehnten versucht man nun zu klären, wann eine Rechtfertigung ausreicht, damit wir von Wissen reden können. Der Skeptiker sagt lässig: „Nie.“ Nur ein Streit um Worte? Ja, aber um die wichtigsten. Denn wir wollen ja Fakten von Fake News, Wissenschaft von Pseudowissenschaft unterscheiden. Geert Keil dürfte mit „Wenn ich mich nicht irre“ kaum so berühmt werden wie Gettier mit seinem Aufsatz. Aber der Professor in Berlin liefert einen Überblick, den auch Laien gut verstehen. Mit einem sauber verteidigten Standpunkt: Nach allem, was wir wissen, sind Menschen stets fehlbar, für Täuschungen anfällig, sogar bei den „evidenten“ Aussagen von Mathematik und Logik. Aber das heißt nicht, dass wir nichts wissen.

Geert Keil: „Wenn ich mich nicht irre“, , 96 Seiten, 6 Euro
Geert Keil: „Wenn ich mich nicht irre“, , 96 Seiten, 6 Euro(c) Reclam

Keine Garantie für Wahrheit

Denn die Skeptiker gehen zu weit, wenn sie fordern, wir müssten dafür die Wahrheit des Gewussten garantieren. Also etwa auch extreme Möglichkeiten ausschließen, wie dass ein böser Dämon uns ständig täuscht (worüber Descartes meditierte) oder ein irrer Arzt unsere Hirne in den Tank packt und an einen Supercomputer anschließt, der für unsere Wahrnehmungen sorgt (wie bei Hilary Putnam oder im Film „Matrix“). Nein, ich habe bei einer „exzellenten Rechtfertigung“ (wie auch immer die ausschaut) das Recht, mir Wissen zuzuschreiben. Manchmal merke ich eben im Nachhinein, dass es doch kein Wissen war. Der Königsweg zu ihm bleibt die Wissenschaft, nicht weil sie sich nie irrt, sondern weil sie die besten Voraussetzungen bietet, Irrtümer bald aufzudecken – meist durch noch mehr Wissenschaft.

Keil zählt sich damit zu den „Fallibilisten“ im Gefolge von Charles Peirce und Karl Popper. Man hat ihnen Ähnliches vorgeworfen wie den Skeptikern: dass sie sich selbst widerlegen. Woher wollen sie denn unfehlbar wissen, dass wir nichts unfehlbar wissen können? Diesem Vorwurf baut Keil pfiffig vor, mit seinem Einschub „nach allem, was wir wissen“, zusammen mit seinem abgeschwächten Anspruch, der Wissen auch ohne Treffergarantie ermöglicht. Noch kecker machte es Sam Hawkens in Karl Mays „Schatz im Silbersee“: „Ich irre mich nie. Wenn ich mich nicht irre.“

Tractatus-Preis

Das Philosophicum Lech vergibt seit 2009 alljährlich den Tractatus-Preis für philosophische Essayistik. Auf der Shortlist stehen sechs Bücher:

Susanne Boshammer: „Die zweite Chance“
Michael Hampe: „Die Wildnis“
Geert Keil: „Wenn ich mich nicht irre“
Robert Pfaller: „Die blitzenden Waffen“
Ulf Poschardt: „Mündig“
Roberto Simanowski: „Todesalgorithmus“

Die Preisvergabe findet am 25. September beim Philosophicum in Lech statt. Alle nominierten Bücher wurden in der „Presse“ bereits besprochen, Sie finden die Rezensionen auf unserer Homepage: diepresse.com/tractatus

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.08.2020)

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