Valery Afanassiev: Aufbegehren und Nachlauschen

(c) Clemens Fabry
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Valery Afanassiev zelebrierte die späten Klavierstücke von Brahms zwischen Trauer, Zorn und Wehmut. Er hat zu diesen Werken schon lange eine innige Beziehung, die sich nicht auf der emotionalen Seite erschöpft.

Eigentlich könnte man die späten Klavierstücke von Johannes Brahms nur laut schluchzend vortragen, fasste der vor wenigen Monaten allzu früh verstorbene und schmerzlich vermisste Musikwissenschaftler Manfred Angerer deren Grundstimmung einmal in gewohnt pointierte Worte. Eine Charakteristik, die indirekt auch darauf hinweist, dass diese insgesamt 20 Piècen, die Brahms mehrheitlich als Capricci und Intermezzi bezeichnet und in den vier Gruppen der Opera 116 bis 119 zusammengefasst hat, nicht vordergründig gleichsam selbst klingende Tränen vergießen, sondern dass sie auf Basis einer von tiefer Melancholie und wohl auch Pessimismus bestimmten Haltung entstanden sind, die selbst dort noch weiterwirkt, wo die Oberfläche sich stellenweise den Anschein des Heiteren, Gelösten, sogar Leichten gibt.

Exemplarisch langer Atem

Valery Afanassiev, übrigens nicht nur Pianist, sondern auch polyglotter Literat, hat zu diesen Werken schon lange eine besonders innige Beziehung, die sich freilich nicht auf der emotionalen Seite erschöpft: Im Gegenteil, so wie er die vier Zyklen zum Auftakt der heurigen „Brahms-Szenen“ der Salzburger Festspiele im Mozarteum mit exemplarisch langem Atem erfüllt hat, traten auch, etwa in harmonischen Trübheiten und der Wiederkehr des niemals Gleichen, ihre frappierende Modernität und intellektuelle Schärfe besonders plastisch hervor.

Wenn Afanassiev betont, er wolle mit pianistischen Mitteln das erreichen, was seine bevorzugten Dirigenten musikalisch verwirklichen konnten, dann muss er hier nicht zuletzt Otto Klemperer im Sinn gehabt haben – seine Strenge, Unerbittlichkeit und eherne Größe. Wie in Stein gemeißelt, tönte da bereits das eröffnende Capriccio d-Moll op. 116/1, und nach der finalen, herrischen Es-Dur-Rhapsodie op. 119/4 riss Afanassiev die Hände mit solch dramatischer Geste von der Tastatur zur Seite, als müsse er dort noch einen weiteren Sforzato-Akkord donnern.

Neben reichlich zornigem Aufbegehren war freilich mehrfach zu erleben, wie viel Trauer Brahms gerade in Dur-Tonarten verarbeitet hat (in den Intermezzi op. 116/4 und 118/2 etwa) oder wie viel Nachsinnen gerade die leisen Stücke in den immer wieder schier endlos gehaltenen, bis beinah ins Nichts verklingenden Schlussakkorden verlangen. Geradezu atonal mutete das e-Moll-Intermezzo op. 116/5 an, wie feinste Spinnweben durch die Luft glitten die Linien in op. 119/1: ein Abend von packender Radikalität.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2010)

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