So stolz, so schön: Das Einhorn als Figurenuhr, aus Augsburg um 1600.
Mythos

Warum wir Tiere lieben, die es gar nicht gibt

Es ist nicht zu zähmen, edel, rein – und zum Kitsch verkommen: das Einhorn. Eine deutsche Ausstellung spürt nun seinem Einfluss auf die Popkultur nach. Die Geschichte des seltsamen Fabelwesens verrät viel über uns selbst.

Es kam der Punkt, vor zwei, drei Jahren, da war es dann zu viel. Das Tier, das es nicht gibt, breitete sich völlig unkontrolliert aus. Bis dahin war die Population im Kinderzimmer eingehegt, wo sie in Symbiose mit verträumten Mädchen lebte. Doch im Galopp überwand das weiße Pferd mit dem spiralförmigen Horn auf der Stirn die Grenzen seines angestammten Habitats. Man fand es bald in jedem Supermarktregal: auf Klopapierrollen mit Zuckerwatteduft, Etiketten von Weizenbier mit Himbeersirup und Tuben für Ketchup mit Glitzerteilchen. Kalender mit Sinnsprüchen motivierten uns Allerweltsmenschen, ein Exemplar dieser imaginären Art zu werden. Und es bevölkerte, in seiner Mutation zur aufblasbaren Badeinsel, heimische Schotterteiche. Als der Hype seinen Höhepunkt erreichte, gaben es genervte Kommentatoren zum Abschuss frei: Das Einhorn ist dem Kommerz verfallen, blasen wir zur finalen Treibjagd!

Aber ein starker, jahrtausendealter, mit so vielen Sehnsüchten aufgeladener Mythos lässt sich nicht ausrotten, auch wenn seine einst edle Form nur noch zu erahnen ist. Eine aktuelle Ausstellung in Schwäbisch Gmünd versucht erst gar nicht, die rosafarbene Zuckerglasur abzukratzen: „The Last Unicorn“ zeigt noch bis kommenden Jänner „Das Einhorn im Spiegel der Popkultur“. Als Leitmotiv dient die Fantasy-Saga vom „Letzten Einhorn“, die Peter S. Beagle 1968 als Roman verfasste und die 1982 als Zeichentrickfilm Furore machte, samt süßlichem Titelsong der Band America. Über die Historie solcher Wesen in der Möglichkeitsform beugte sich am selben Ort schon vor 20 Jahren eine Ausstellung (das süddeutsche Städtchen ist seinem Wappentier besonders verbunden). Beides zusammen, archaischer Ursprung und aktuelle Verflachung, verrät einiges über uns selbst: Es zeichnet uns Menschen aus, dass wir innige Gefühle für etwas entwickeln, was nur unserer Einbildungskraft entspringt, und dabei Kunst mit Kitsch ganz wundersam vermengen.

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