EU/Mercosur

Lateinamerika und Europa – die Geschichte einer Entfremdung

Eigentlich hätte das unterschriftsreife Handelsabkommen mit dem regionalen Mercosur-Block für engere (wirtschaftliche) Verbindungen sorgen sollen. Doch europäische Kritik an den Brandrodungen im Amazonas-Gebiet gefährdet die Ratifizierung des Pakts.

Buenos Aires. Ende August wurde der Atlantik um viele Kilometer breiter. Als Angela Merkels Sprecher, Steffen Seibert, an einem Freitagnachmittag in Berlin bekannt gab, die deutsche Regierung erwäge, das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und ihrem südamerikanischen Konterpart Mercosur nicht zu ratifizieren, wurde die Geschichte der transkontinentalen Entfremdung um ein weiteres Kapitel ergänzt.

Die nach Jahrzehnten mühsamer Verhandlungen im Vorjahr erzielte Übereinkunft war schon bald nach deren Unterschrift von den Regierungen in Paris und Dublin sowie den Parlamenten in Wien und Den Haag infrage gestellt worden – eine direkte Folge der Bilder aus der brennenden Amazonas-Region. Aber bislang hatte zumindest das kontinentale Schwergewicht Deutschland, ermuntert von seiner in Südamerika stark engagierten Industrie, den Vertrag gestützt. Der Umschwung kam, weil die Brandrodungen in Brasilien trotz Pandemie und entgegen aller Versprechen nochmals um 28 Prozent zunahmen. Nach einem Gespräch zwischen Kanzlerin Angela Merkel und Klimaaktivistin Greta Thunberg gab deren deutsche Verbündete Luisa Neubauer bekannt, Merkel habe versprochen, den Vertrag nicht zu ratifizieren.

Das ist keine temporäre Verstimmung, es ist eine Abnabelung. Fünf Jahrhunderte hatten die engen Bande zwischen dem alten Kontinent und dem Süden der neuen Welt gehalten. Auch nach der Unabhängigkeit der Länder des Subkontinents vor 200 Jahren hatten Südamerikas Eliten ihre Kinder auf europäische Internate und Hochschulen geschickt. Weizen-, Rinder- und Kautschukbarone waren zwischen Paris und Rio oder Buenos Aires gependelt. Schriftsteller, Journalisten und Revolutionäre verbreiteten ihre Gedanken transatlantisch. In internationalen Organisationen stimmten die Latinos zumeist aufseiten der Europäer. Und die EU galt nach dem Ende der Militärdiktaturen als Vorbild für den gemeinsamen Markt des Südens.

Gespaltenes Bündnis

Heute regiert Ernüchterung. Der Mercosur, der bis heute nicht einmal als Zollunion funktioniert, steht derzeit wieder einmal gespalten da, weil das links regierte Argentinien nicht die Freihandelspolitik der rechten und liberalen Nachbarn Brasilien, Uruguay und Paraguay mitmachen will. Und die Entfremdung mit der EU vollzieht sich, während der Einfluss aus Fernost wächst.

Europa war lange Lateinamerikas Gegengewicht zu den übermächtigen USA. Doch die EU hielt die Latinos hin. Jahrzehntelang zogen sich die Verhandlungen über Freihandel, verschleppt vor allem durch die Agrarlobby. Und als der Rahmenvertrag im Vorjahr doch noch zustande kam, war der chinesische Markt längst wichtiger für Lateinamerika als Europa. China könnte sämtliche Lebensmittel des Subkontinents aufkaufen. Und der Appetit der Volksrepublik, in der inzwischen mindestens 400 Millionen Menschen der Mittel- und Oberschicht angehören, wird weiter zunehmen.

Darum spielt Europa in Südamerika heute noch bestenfalls die dritte Geige. In Venezuela, wo sich auch noch Russland, Iran und die Türkei eingeklinkt haben, die sechste. Immerhin: In Bolivien half Ende des Vorjahres eine beherzte EU-Vermittlung nach dem Sturz von Evo Morales, Blutvergießen zu vermeiden.

Dort zeigte sich, wie Europas Rolle in Lateinamerika aussehen könnte: als Vermittler zwischen den Machtblöcken des 21. Jahrhunderts. China weitet still und stetig seinen Einfluss auf die Länder aus, deren Bodenschätze und Nahrungsreserven es sich langfristig sichern will. Die „neue Seidenstraße“, mit der China Staaten durch Kreditvergaben an sich bindet, soll bald auch in den Südatlantik führen. Im bankrotten Argentinien führt Vizepräsidentin Cristina Kirchner entsprechende Verhandlungen.

Trotz alledem: Für Millionen Lateinamerikaner ist Europa immer noch so etwas wie der Plan B. In südamerikanischen Schubladen liegen mehrere Millionen EU-Pässe. Für den Fall der Fälle haben sich viele Familien mit europäischen Vorfahren die Staatsbürgerschaften ihrer Ahnen bewahrt. Insbesondere Italien ist großzügig bei der Vergabe von Dokumenten, die ihren Besitzern die Einreise und Arbeitsaufnahme in ganz Europa erlauben. Vor allem auf der iberischen Halbinsel studieren und arbeiten Hunderttausende junge Menschen mit venezolanischem, argentinischem und brasilianischem Akzent.

In Brasilia, wo Jair Bolsonaro, der Hauptadressat der deutschen Abkehr vom EU-Mercosur-Vertrag regiert, hatte man für den Korb aus Berlin nicht einmal einen Kommentar übrig. Warum auch? China kauft ohnehin alles. (a.f.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.08.2020)

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