Südosteuropa

Balkanstaaten zwischen Hoffnung und Enttäuschung

Im Brüsseler Wartesaal: Serbiens Präsident, Aleksandar Vučić (l.), mit Ratspräsident Charles Michel.
Im Brüsseler Wartesaal: Serbiens Präsident, Aleksandar Vučić (l.), mit Ratspräsident Charles Michel. (c) REUTERS (POOL)
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Als Wirtschaftsmacht geschätzt, politisch an Einfluss verloren: Südosteuropa nimmt die EU mit gemischten Gefühlen wahr.

Belgrad. Auch auf dem Balkan bestimmt das eigene Sein das Bewusstsein – und die Wahrnehmung der EU. In deren Wartesaal wird diese anders erfahren als in Staaten, die bereits deren Mitglied sind. Doch ob in oder noch außerhalb von Europas kriselnden Wohlstandsbündnis: Die Erwartungen von Amtsträgern der EU-Nachzügler in Südosteuropa unterscheiden sich von denen ihrer Schutzbefohlenen genauso wie die von Bürgerrechtsgruppen oder Oppositionellen.

Ob Ernüchterung über die enttäuschten Hoffnungen der Mitgliedschaft oder Ermattung in der Dauerwarteschleife für den Beitritt: Der einstige Enthusiasmus für die EU, von der der Erweiterungsgipfel von Thessaloniki 2004 beseelt war, ist grenzüberschreitend verblasst. In einigen Staaten, wie Serbien oder dem Kosovo, ist die EU-Zustimmung selbst am Sinken.

Geldsegen aus Brüssel

Offen EU-skeptische Töne, wie sie Ungarns nationalpopulistischer Premier, Viktor Orbán, gern anschlägt, sind in Südosteuropa dennoch selten zu hören. Die Balkanstaaten sind sich des Unterschieds ihrer Lebensverhältnisse zu denen der reicheren EU-Mitglieder bewusst. Für viele Bewohner der Region symbolisiert die EU trotz aller Ernüchterung noch stets die Hoffnung auf eine Zukunft in geordneteren Verhältnissen, auf ein Leben in materieller Sicherheit, in der man sich mit Arbeit auch ein menschenwürdiges Auskommen sichern kann.

Die Würdenträger im ausgelaugten Armenhaus Europas haben vor allem die Segnungen des gemeinsamen Marktes und die ersehnten Auslandsinvestoren im Blick. Oft betrachten sie die EU weniger als die gern beschworene Wertegemeinschaft denn als prall gefüllter Euro-Euter, aus dem es so viele Mittel wie möglich in die eigenen Eimer zu melken gilt. Fotos mit den Amtskollegen dienen gewieften Balkan-Landesfürsten innenpolitisch als Beleg für die eigene Unersetzlichkeit, der sie gegenüber heimischen Kritikern legitimiert. „Was wollt ihr denn? Seht, wie ich im Ausland geschätzt werde!“, so die Botschaft.

Diffuses Erscheinungsbild

Die europäischen Werte, Pressefreiheit und rechtsstaatliche Verhältnisse mahnen vor allem Bürgerrechtler oder auch die Opposition ein. In ihrem Streben nach einer gerechteren Gesellschaft fühlen sie sich von der als Bündnispartner und Oberschiedsrichter angerufenen EU oft jedoch aufs Neue enttäuscht: Ihrer Meinung nach adeln die mit den Machthabern fraternisierenden EU-Emissäre viel zu leichtfertig den Bock zum vermeintlichen Reform-Gärtner.

Es ist auch die diffus wirkende Erscheinungsform der EU, die vielen Balkan-Bewohnern die Bewertung erschwert. Einerseits lässt die EU-Kommission über die Beitrittskandidaten jährlich gestrenge Fortschrittsberichte verfassen. Anderseits pflegen gerade die Kommissionsmitglieder selbst mit autoritär gestrickten Strippenziehern einen betont diplomatischen und freundschaftlichen Umgangston.

Vielstimmiger EU-Chor

Selbst wenn es nötig wäre, lassen auch Regierungspolitiker der EU-Partner bei öffentlichen Auftritten kaum Töne der Dissonanz vernehmen – und agieren so als vermeintliche Komplizen ihrer Gastgeber. Auch die fatale Loyalität der europäischen Parteienfamilien mit fragwürdigen Balkan-Partnern verstärkt den Eindruck, dass die EU weniger auf Prinzipien als auf eine widersprüchliche Realpolitik setzt.

Als Wirtschaftsmacht wird die EU geschätzt. Politisch hat sie im Südosten an Einfluss verloren. Das zunehmende Desinteresse in Westeuropa an der Region hat genauso für ein Machtvakuum gesorgt wie die eher von der Rücksicht auf heimische Populisten und Urnengänge als langfristigen Strategien bestimmte Balkan-Politik der EU. Zunutze machen sich dieses nicht nur Moskau, Peking oder Ankara, sondern auch Washington.

Der Kosovo etwa hat alle von der EU gestellten Bedingungen für visafreie Reisen in die Schengenzone seit Jahren erfüllt. Dennoch müssen sich die Kosovaren vor den Konsulaten weiter anstellen.

Personifizierte Politik

In der an Grenzen reichen Region werden komplizierte Nachbarschaftsehen vor allem durch die bilateralen Beziehungen der Nationalstaaten geprägt. Noch mehr als im Westen Europas wird Politik im Südosten personifiziert. Auch darum wird die EU oft eher als vielstimmiger Chor von Politikern und Nationen denn als homogener Machtblock erfahren. Mehr als alle EU-Kommissare werden daher die Entscheidungsträger der wichtigen EU-Partner wahrgenommen und Politiker wie Angela Merkel oder Emmanuel Macron gern mit der EU gleichgesetzt.

„Angela, sind Sie blind?“ ist auf Plakaten zu lesen, mit denen in Bulgarien seit Wochen Tausende gegen den der Mafia-Machenschaften verdächtigten Premier, Bojko Borissow, demonstrieren. Während bulgarische Kritiker der EU vorwerfen, eine korrupte Regierung zu stützen, zogen im nahen Rumänien von 2017 bis 2019 Zehntausende mit EU-Bannern gegen die Gängelung der Justiz auf die Straßen: Einheitlich ist die Bewertung der EU auch unter den europafreundlich gesinnten Regierungskritikern Südosteuropas keineswegs.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.08.2020)

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