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Stefan Lehne

„Die Schwachstelle ist die Außenpolitik“

Stefan Lehne spricht sich im „Presse“-Interview für den Aufbau einer EU-Verteidigungsstruktur aus, glaubt aber, dass es noch lang dauern wird, bis Mitgliedstaaten Souveränität aufgeben werden.
Stefan Lehne spricht sich im „Presse“-Interview für den Aufbau einer EU-Verteidigungsstruktur aus, glaubt aber, dass es noch lang dauern wird, bis Mitgliedstaaten Souveränität aufgeben werden.(c) Martin Juen/Sepa Media/picturedesk
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Der EU-Experte Stefan Lehne sieht Brüssel als wichtigen Faktor in der Weltpolitik, das Problem sei aber, dass die Nationalstaaten ihre Souveränität nicht aufgeben wollen. Dies könne nur durch mehr wechselseitiges Vertrauen überwunden werden.

Die Presse: Die EU ist ein großer Wirtschaftsraum und mächtiger politischer Block. Aber im aktuellen Weltgeschehen dominieren andere. Warum?

Stefan Lehne:
Die EU hat eine Menge mitzureden. Als Handelsmacht kann sie sich gegen die Attacken von Donald Trump und gegen unfaire Handelspraktiken Chinas behaupten ebenso wie gegenüber Google und Facebook. Als wichtigste Quelle von Normen prägt sie globale Standards von Umwelt- über Konsumenten- bis zu Datenschutz. Gemeinsam mit den Mitgliedstaaten leistet sie mehr Entwicklungshilfe als irgendein anderer Akteur und finanziert einen Großteil der multilateralen Zusammenarbeit. Ihre große Schwachstelle ist die klassische Außen- und Sicherheitspolitik.


Woran liegt das?

Das eine Problem sind die größeren Länder, die ihrer nationalen Außenpolitik den Vorrang einräumen. Präsident Macron z. B. möchte selbst in allen möglichen Krisen vermitteln. Er bedient sich der EU gern als Instrument der französischen Außenpolitik, möchte aber das Heft nicht aus der Hand geben. Das andere Problem sind kleinere Länder, die zwar gern im Rat mitdiskutieren, aber die Kosten und Risken einer operativen gemeinsamen Außenpolitik scheuen. Zahlreiche EU-Partner sind nicht bereit, ihre nationale Außenpolitik der gemeinsamen EU-Politik unterzuordnen. Daran scheitert auch der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen, der in den meisten Bereichen der EU-Politik längst gelungen ist.

 

Kann man diese Strukturschwächen überhaupt noch reparieren?

Gemeinsame Außenpolitik lässt sich nicht einführen wie eine gemeinsame Währung. Verträge und Fristen sind weniger wichtig als wechselseitiges Vertrauen. Durch den Brexit ist die EU zwar schwächer, aber gleichzeitig auch kohärenter geworden. Falls Deutschland und Frankreich in den nächsten Jahren gut zusammenarbeiten und die gemeinsamen EU-Institutionen unterstützen, könnte es zu einer schrittweisen Erhöhung der Effektivität kommen. Eine EU mit 27 Mitgliedstaaten wird aber noch lang nicht so handlungsfähig sein wie ein Nationalstaat.


Die EU hat kaum militärische Macht. Wird man da überhaupt ernst genommen?

Die EU sagt bei jeder Krise, dass es keine militärische Lösung gibt. Das klingt zwar gut, aber wenn Russland einige Hundert Söldner und die Türkei ebenso viele syrische Rebellen nach Libyen schicken, sind diese beiden Länder plötzlich zentrale Spieler im politischen Prozess, während die EU am Rande steht. Der Mangel an militärischer Kapazität und – noch wichtiger – an Bereitschaft, sie auch einzusetzen, stellt sicher ein wesentliches Handicap dar.


Heißt das, die EU sollte schnell eine eigene Verteidigung aufbauen? Wie könnte man dann mit der Nato kooperieren?

Natürlich wäre das sinnvoll. Die EU hat in den letzten Jahren eine Reihe von Projekten (Pesco, Verteidigungsfonds etc.) auf den Weg gebracht; allerdings hat der letzte Europäische Rat die dafür vorgesehenen Budgetmittel erheblich zusammengestrichen. Zwischen EU und Nato bietet sich eine relativ einfache Arbeitsteilung an: Im Osten sind die USA als Sicherheitsgarantie sicher noch lang unverzichtbar, dagegen ist im Süden die EU aufgrund ihrer stärkeren wirtschaftlichen und politischen Präsenz besser geeignet, zur militärischen Stabilität beizutragen.

"Die Rivalität mit China würde auch unter Joe Biden die Außenpolitik der USA dominieren. Aber der Ton gegenüber der EU wäre freundlicher."

Stefan Lehne, EU-Experte Carnegie-Thinktank

Wären die Mitglieder überhaupt bereit, in Verteidigungsfragen Macht abzugeben?

In den nächsten Jahren wird es vor allem um die Intensivierung der Zusammenarbeit und den Aufbau gemeinsamer Kapazitäten gehen. Schon das setzt voraus, dass sich die Mitgliedstaaten im Ernstfall mehr aufeinander verlassen, als dies bisher der Fall war. Der Verzicht auf Souveränität wird erst bei einer Integration der Militärstrukturen und der Zentralisierung von militärischen Entscheidungen aktuell. Davon sind wir noch weit entfernt.


Der US-Präsident hält von Multilateralismus gar nichts. Wie soll die EU reagieren?

Das Eintreten für regelbasierte multilaterale Problemlösungen ist für die EU alternativlos, es ergibt sich aus ihrem Wesen. In Zeiten von Trump und dem Aufstieg autoritärer Regime in vielen Weltteilen wird dieses Engagement schwieriger, aber die EU hat dabei auch viele Bundesgenossen wie Japan, Kanada und viele Entwicklungsländer.


Würde sich die US-Außenpolitik unter einem Präsidenten Biden groß ändern?

Ein Zurück zu den transatlantischen Beziehungen der 1990er-Jahre wird es mit Sicherheit nicht geben. Die Rivalität mit China würde auch unter Biden die Außenpolitik dominieren; Europas Stellenwert wäre bestenfalls zweitrangig. Aber der Ton gegenüber der EU wäre freundlicher, und in vielen Bereichen (z. B. Klimawandel) würden sich bessere Chancen für Zusammenarbeit ergeben.


Wie sollte die EU mit Russland umgehen: Dialog oder harte Haltung?

Immer wieder gibt es Bemühungen – gegenwärtig etwa von Macron –, die seit der Krim-Krise praktisch eingefrorenen Beziehungen zu Russland aufzulockern, aber sie kommen kaum voran. Hauptproblem ist dabei, dass Wladimir Putin an einer nachhaltigen Verbesserung wenig interessiert zu sein scheint. Offenbar braucht er für die Stabilität seines Regimes ein gewisses Maß an Feindseligkeit gegenüber dem Westen.


Das führt zum Thema Belarus. Handelt die EU in dieser Krise richtig?

Ein schwieriger Balanceakt: Einerseits muss man Wahlbetrug und Repression klar verurteilen; andererseits muss der Eindruck der Einmischung vermieden werden, denn realistisch betrachtet wird die EU den Verlauf der Krise kaum beeinflussen können. Moskau ist da ein viel relevanterer Akteur. Daher ist es richtig, wenn Merkel und Macron den Dialog mit Putin suchen.

 

Ein weiterer aktueller Konflikt ist der türkisch-griechische Streit um Erdgas. Wie soll Brüssel damit umgehen?

Der Plan, die Türkei durch die Erweiterungsperspektive an die EU heranzuführen, ist gescheitert. Das Land bleibt aber ein essenzieller Partner, wenn es um Energie, Migration, Nahostpolitik und andere Themen geht. Die EU muss den Provokationen Ankaras mit der notwendigen Festigkeit begegnen, gleichzeitig auch dafür sorgen, dass es genügend Anreize für konstruktive Beziehungen anbietet. Mittelfristig kommt vor allem der Ausbau der Zollunion infrage.


Wie sehen Sie das Verhältnis zu China?

Die EU hat ihre ursprünglich naive Haltung überwunden und betrachtet China heute nicht nur als Partner, sondern auch als „systemischen Rivalen“. Chinesische Investitionen werden überprüft, um Abhängigkeiten von chinesischem Kapital und chinesischer Technologie zu vermeiden. Die beste Antwort Europas auf die Herausforderung sind aber Investitionen in die eigene Stärke von der Hochtechnologie bis zur Wettbewerbsfähigkeit. Darüber hinaus sollten Drittländern attraktive Angebote für wirtschaftliche Zusammenarbeit gemacht werden, die mit chinesischen Projekten mithalten können.


Letztes Thema: Afrika. Vernachlässigt die EU den Kontinent? Sollte sie sich mehr engagieren?

Afrika ist oft das letzte Thema, sollte aber eines der ersten sein. Afrikas Bedeutung für Europa geht weit über die Themen Migration und chinesischer Einfluss hinaus. Sein Anteil an der Weltbevölkerung wird bis 2070 auf über 20 Prozent steigen, der der EU auf vier Prozent sinken. Teile des Kontinents entwickeln sich zu den dynamischsten Wachstumsmärkten der nächsten Jahrzehnte. Aufgrund von Geografie und Geschichte ist Europa besser positioniert als die USA und China, um dieses Potenzial zu nutzen. Es wird aber auch disproportional von den Problemen Afrikas betroffen sein. Dass Kommissionspräsidentin von der Leyen ihre erste Reise nach Addis Abeba unternahm, symbolisiert den neuen Stellenwert des Kontinents für die Außenpolitik der EU.

Zur Person

Stefan Lehne ist derzeit Visiting Scholar beim US-Thinktank Carnegie Endowment for International Peace und Lektor an der Diplomatischen Akademie in Wien. Er forscht zu den Themen Außenpolitik der Europäischen Union, EU-Institutionen und Reformen. Seine Laufbahn als österreichischer Diplomat beendete er 2011 als politischer Direktor des Außenministeriums. Als EU-Beamter fungierte er unter anderem als Direktor für den Balkan, Osteuropa und Zentralasien im Generalsekretariat des Rates der EU.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.08.2020)