Literatur

Die Wunder einer grausamen Wildnis

Rye Curtis hat ein Romandebüt vorgelegt, das von erstaunlicher Reife zeugt.
Rye Curtis hat ein Romandebüt vorgelegt, das von erstaunlicher Reife zeugt. Privat
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In »Cloris« rückt Rye Curtis den Überlebenskampf einer 72-Jährigen nach einem Flugzeugabsturz ins Zentrum – und versammelt allerlei seltsame Käuze in der Bergwelt Montanas.

Ihr Mann hängt leblos in einer Fichte am Berghang, und der Pilot, der das Ehepaar aus Texas in eine abgelegene Hütte in den Rocky Mountains von Montana bringen sollte, liegt im Flugzeugwrack im Sterben und singt leise den Cindy-Lauper-Song „Time After Time“. Lakonisch und zugleich mit prägnantem Sinn für schaurige Details erzählt Cloris Waldrip vom Beginn ihres 77-tägigen Martyriums im Herbst 1986.

Zurückgeworfen auf sich selbst beginnt die praktisch veranlagte 72-jährige Ex-Bibliothekarin und Rancherfrau, eine gläubige Methodistin, ihren Überlebenskampf in der Wildnis. Sie kramt alles zusammen, von dem sie meint, es könnte ihr von Nutzen sein: die Jacke des Piloten und einen Stiefel ihres Mannes, der im Wrack zurückgeblieben ist und in dem sie Regenwasser sammeln wird.

Viel mehr bleibt ihr nicht in dem existenziellen Kampf, den sie 20 Jahre später in einem Altersheim niederschreibt, als sie längst zu einer kleinen Sensation geworden ist: Wie sie sich in der Natur durchschlägt, im Angesicht von wilden Kreaturen, gepeinigt von Angst und Hunger, erschöpft und verzweifelt bis hin zu einem zaghaften Suizidversuch, und dabei Gewitter und Feuer trotzt; wie sie lernt, Fische zu fangen, Fledermäuse und schließlich eine Bergziege, die sie Erasmus nennt, zu töten; wie sie behelfsmäßig ein Floß zimmert: Das ist eine eindrucksvolle Naturschilderung, gebrochen indessen durch eingeflochtene Lebensweisheiten, Anekdoten und biografische Bruchstücke.

Maskierter guter Geist. So sehr die Einsamkeit sie auch umfängt – Cloris ist nicht allein auf sich gestellt. Ein guter Geist wacht über sie, beschützt und umsorgt sie. In Stunden der Not ist stets ein maskierter Mann zur Stelle, der sie in eine Hütte oder seinen Unterschlupf im Wald bringt. Das FBI ist dem Mann auf den Fersen, den sie für den „Arizona Kisser“ mit Vorliebe für sehr junge Mädchen hält und für einen Entführer.

Er ist einer der seltsamen Käuze, die durch die Berge und Wälder streifen und sich in der Abgeschiedenheit mit Geschick und Instinkt für die Gefahr eingerichtet haben. Auch die verhärmte Parkrangerin Debra Lewis, geschieden von einem Bigamisten mit drei Frauen, zählt zu dieser Spezies. Sie trinkt zu viel Merlot, den sie in einer Thermosflasche mitschleppt, lauscht in Nachtstunden gerne Dr. Howe, einem Talk-Radio-Moderator und Seelentröster. Trotz aller Unkenrufe gibt sie die Suche nach Cloris nicht auf. Assistiert wird ihr vom Chef des Suchtrupps aus Missoula, einem merkwürdigen Witwer, der sie zum beiläufigen Sex im Whirlpool verführt, und seiner noch merkwürdigeren Teenagertochter, für die Debra mehr als stiefmütterliche Gefühle empfindet.

Nach außen hin unversehrt, ist die Parkrangerin ein psychisches Wrack, angezogen von einer unbarmherzigen, wundersamen, poetisch beschriebenen Natur. Rye Curtis setzt sie in einen reizvollen Kontrast zur Hauptfigur, die in der 54-jährigen, kinderlosen Ehe mit Mr. Waldrip vermeintlich Frieden und Zufriedenheit gefunden hat. Angesichts der Heimkehr nach Texas erfasst sie aber solche Panik, dass sie irgendwann in ihrer Odyssee durch die Wildnis Reißaus nimmt vor dem Suchtrupp. Am Ende aber siegt die Vernunft.

Womöglich schimmert die Abneigung des Autors, eines Texaners, der in New York lebt, gegen die spießige, verlogene kleine Welt durch, die er in seiner Schilderung der Methodistengemeinde evoziert. Sein Debüt ist mehr als nur eine Talentprobe, eine erstaunliche reife Erzählung im Spannungsfeld zwischen Natur und Zivilisation und eine Verheißung für die Zukunft.

Neu Erschienen:

Rye Curtis, Cloris

Übersetzt von
Cornelius Hartz
Verlag C. H. Beck
351 Seiten
24,90 Euro

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