Am Herd

Maß an Regelung

Bei uns im Osten geht es nicht um den Verkehr, sondern ums Recht haben. Und dabei ist der Autofahrer um nix besser als der Radfahrer oder der Fußgänger.

Meine Schwester war vergangene Woche mit ihrer Familie zu Gast in Österreich. Konkret in der Wachau. Es gibt dort Dürnstein und Spitz, die Donau und ein Stift, ein Karikaturenmuseum, Radwege, die an Apfelbäumen, Reben und pittoresken Friedhöfen vorbeiführen, alles wunderschön. Und dann gibt es Autofahrer.

Diese Autofahrer haben meine Schwester wirklich überrascht. Vielleicht könnte man auch von einem Kulturschock sprechen, meine Schwester lebt nämlich in Vorarlberg und dort herrscht offenbar unter Autofahrern, Radlern und Fußgängern so etwas wie eine friedliche Koexistenz. Aber in Krems? In Melk? Mehrmals sei sie als Radlerin böse gerüffelt worden, einer habe sogar angehalten und sei extra ausgestiegen, um ihr den Kopf zu waschen. „Okay, ich bin beim Stoppschild nicht stehen geblieben, jedenfalls nicht so richtig, aber ich habe keinen behindert und erst recht niemanden in Gefahr gebracht. Warum macht der das, bitte?“


Gemaßregelt. Ich weiß ja nicht, wie das in Vorarlberg so ist, und in der Wachau war ich auch schon länger nicht mehr. Aber ich kenne dieses Verhalten aus Wien. In Wien geht es nämlich nicht um den Verkehr, nicht um die Sicherheit – sondern ums Recht haben. Und dabei ist der Autofahrer um nix besser als der Radfahrer oder der Fußgänger. Wer sich bewegt, wird gemaßregelt, und Gründe finden sich immer genug. An der Ampel drei Sekunden zu lang gebraucht, um aufs Gas zu steigen? Mit dem Rad bei Rot rechts abgebogen? Fünf Meter gegen die leere Einbahn gefahren? Sich beim Spazierengehen am Ring auf den Radweg verirrt? Ein bisschen zu weit nach rechts geraten? Oder gar, bewahre, kurz stehen geblieben, weil man die Orientierung verloren hat? Da wird gehupt, geklingelt und geflucht, was die Hupe, die Klingel und der eigene Wortschatz so hergeben.

Bei uns in Wien könnte man um fünf Uhr Früh durch die Fußgängerzone radeln und der einzige Passant weit und breit würde dich ankeppeln. Nicht weil du ihn störst. Sondern weil er es kann.


Höflichkeit. Ich weiß nicht, warum das alles hier so schwierig ist. Vielleicht gibt es in Vorarlberg einfach mehr Platz. Oder die Menschen haben mehr Zeit. Vielleicht kennt dort auch jeder jeden bzw. dessen Nummerntafel und man geht deshalb höflicher miteinander um. Möglicherweise gibt es aber auch im Westen nicht den Autofahrer, den Radfahrer und den Fußgänger, sondern jeder ist manchmal zu Fuß und manchmal mit dem Auto unterwegs – und für kürzere Wege nimmt man halt das Rad.

Seit ich – spät aber doch – den Führerschein gemacht habe, bin ich jedenfalls Autofahrern gegenüber viel gnädiger.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2020)

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