Film

Bringt bloß nicht diese Kinder an die Macht

Als hätte man den „Herrn der Fliegen“ mit „House of Cards“ gekreuzt: der preisgekrönte amerikanische Dokumentarfilm „Boys State“.
Als hätte man den „Herrn der Fliegen“ mit „House of Cards“ gekreuzt: der preisgekrönte amerikanische Dokumentarfilm „Boys State“. (c) Apple TV
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Würden Jugendliche eine bessere Politik machen? Die spannende, schockierende US-Doku „Boy State“ auf Apple TV lässt einen den Glauben daran rasch verlieren. Und zugleich auf die jüngst repolitisierte Jugend bei uns hoffen.

Diesem Anfang wohnt kein Zauber inne. Über tausend junge Burschen kommen zusammen, um Politik von vorne zu beginnen. Eine Woche lang dürfen sie Zukunft aus dem Nichts gestalten. Und was machen sie? Sie recken die Fäuste, skandieren „USA! USA! USA!“ und johlen zu markigen Parolen der Ehrgeizlinge am Rednerpult. „Wenn wir uns nicht mit Waffen verteidigen können, sind wir nichts als Insekten“, heizt einer ein. „Starke Männer schaffen eine freie, starke Gesellschaft, schwache nur Chaos“ predigt ein anderer.

Später, lässig hingestreckt auf dem Sofa, reflektieren die Möchtegern-Machthaber ihre Ambitionen. „Einheit ist letztlich gut fürs Land“, erklärt Ben, einer der Teenager-Parteichefs. „Aber damit gewinnst du keine Wahl. Du brauchst spaltende Themen.“ Er will die Gegner in einen „absoluten Zustand der Unterwerfung“ pressen, wozu ihm jeder Trick recht ist. Gelassener geht es Sportskanone Roland an. Drüben im Saal hat er noch lautstark bekundet, er lehne Abtreibung ab. Jetzt vertraut er dem Kameramann an, dass er für ein liberales Abtreibungsrecht ist. Aber diesem konservativen Haufen zuliebe hat er seine Meinung geändert: „So läuft eben Politik.“ Als Zuschauersport und als Spiel für die Mächtigen. Ein schmutziges Spiel. Willkommen im Amerika von heute. Willkommen im „Boys State“.

Politdokus haben meist ein Problem: Sie sind parteiisch. Das Drehbuch, die Auswahl der Interviewpartner, die belehrende Off-Stimme – alles manipuliert. Bei „Boys State“ ging das nicht: Amanda McBaine und ihr Ehemann, Jesse Moss, konnten nur ein Experiment mit ungewissem Ausgang mitprotokollieren. Das macht den Film, der beim Sundance-Festival im Jänner prämiert wurde und seit Kurzem auf Apple TV Plus zu sehen ist, so interessant. Das Sommercamp, nach dem er benannt ist, findet seit 1935 jedes Jahr in allen US-Bundesstaaten statt, parallel zum „Girls State“. Die Teilnehmer, 16 bis 18 Jahre alt, werden per Los auf zwei fiktive Parteien aufgeteilt. Sie beschließen ein Programm, wählen Repräsentanten bis hin zum Gouverneur und debattieren über Gesetze.

Viele Highschools entsenden dafür die Besten des Jahrgangs. So manche machten später von sich reden, wie Bill Clinton, Neil Armstrong oder Bruce Springsteen. Die Filmemacher wählten Texas als Schauplatz. Dort hatte das Jugendparlament im Jahr davor die Nation in Sorge versetzt, weil es den Bundesstaat abspalten wollte. Texas gilt als konservativ, das färbt auf den Nachwuchs ab. Wobei das ganze Programm einen Drall nach rechts hat: Hinter ihm stehen mit der „American Legion“ Kriegsveteranen. Man stelle sich vor, bei uns würde sich der Kameradschaftsbund um die staatsbürgerliche Formung der Blüte der Jugend kümmern. Oh Amerika!

Aber die Entsandten haben ja freie Hand. Sie könnten ihre eigene Vision entwickeln. Das Bestürzende an diesem Film ist: Sie tun es nicht. Die Probleme, unter denen junge Menschen wohl später zu leiden haben, sei es der Klimawandel (links!) oder die erdrückende Staatsverschuldung (rechts!), kommen nie zur Sprache. Stattdessen bunkern sie sich in die ewigen Schützengräben hoch emotionaler Symbolthemen ein: Wie hältst du es mit Waffenbesitz, Abtreibung, illegaler Migration? Freund! Feind! Mörder! Sich politisch zu engagieren bedeutet für diese Schüler: rituelle Rhetorik pflegen, banale Slogans wiederkäuen, sich in patriotischem Pathos suhlen – wie es ihnen die Politiker und ihr medialer Tross vormachen.

Dabei sind diese Halbstarken recht nett, wenn das politische Tier in ihnen schweigt. Sie freunden sich am Abend mit ihren Widersachern an. Sie wählen zwei eloquente Außenseiter zu Parteichefs: einen der wenigen Schwarzen in der weißen Horde und einen Behinderten mit zwei Beinprothesen. Die Großmäuler hieven sogar einen Antihelden in die Stichwahl zum Gouverneur: den dicklichen Latinobuben Steven, der besonnen redet und alles ernst meint, was er sagt.

Trump als Elefant im Raum

Wird er es schaffen gegen einen glatten Sonnyboy? – das sei nicht verraten, denn dieses finale Match macht die Doku spannend und unterhaltsam. Aber in seinen Werten und Zielen bleibt auch dieser Steven blass. Er ist, wenn auch sympathischer verpackt, ein ähnlich öder Streber wie die anderen.

Der Elefant im Raum ist natürlich Donald Trump. Sein Name fällt nur einmal, aber der Ungeist des Präsidenten ist allgegenwärtig. Er manifestiert sich in den Schmähungen und Unterstellungen, mit denen auch in Fake-Texas Wahlen entschieden werden. Und darin, dass nur mehr Emotionen zählen, keine Argumente. Das ist die bittere Pointe von „Boys State“: Die Buben zeigen durch naive Spiegelung, wie infantil die Politik der Erwachsenen geworden ist.

Dennoch macht dieser Film Hoffnung. Nein, nicht für die US-Wahl im November – auf sie projiziert, zeigt er nur, dass mit allem zu rechnen ist. Sondern für Europa. Weil sich vor der negativen Folie das Niveau abhebt, auf dem sich bei uns die nachrückende Generation jüngst politisiert hat, zumal im deutschsprachigen Raum. Jugendliche wählen andere Parteien als ihre Eltern, haben eigene Themen und wissen sie zu vertreten.
Man höre zum Vergleich den Sprachrohren von Fridays for Future oder der Proteste gegen Upload-Filter zu. Oder den vielen YouTube-Bloggern, die im Gefolge des Rezo-Erfolgs ihre Musik- und Schminktipps beiseiteräumen und plötzlich stundenlang über politische Themen referieren, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Mit Leidenschaft, aber sachlich und informiert. Man muss überhaupt nicht ihrer Meinung sein. Aber mit ihnen lässt sich trefflich streiten – und Gemeinsames finden, wie in jedem zivilisierten Diskurs. God Bless Europe.

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