„Wir haben die Angst in den Genen“

Die Ukraine wird umgefärbt, Orange ist am Ende. Die neue Regierung blickt nach Moskau, der Ungeist aus Sowjetzeiten ist wiederauferstanden. Eine Reise durch ein tief gespaltenes Land.

Endlich rollt der Expresszug 169 von Kiew nach Lemberg an. Die Hitze dieses Sommers hat die stählerne Hülle der Waggons aufgeheizt, im Inneren fühlen sich die Fahrgäste wie in einem Brutkasten. Schweißgebadet sitzen sie da, schütten die kühlen Getränke, die es im Kiewer Hauptbahnhof zu kaufen gab, in sich hinein. Ständig wird der Betreuer im Waggon angefleht, doch bitte, bitte, die Klimaanlage einzuschalten. Doch der erklärt nüchtern, die funktioniere erst, wenn der Zug einmal in Fahrt sei.

Der Zug rollt nach Westen, der Betreuer wieselt herum, verkauft Getränke und Snacks. Dann startet er das Unterhaltungsprogramm, der Bildschirm vorne an der Wand beginnt zu flimmern. Aber was läuft da? Über ein Stunde marschieren Soldaten, rollen Panzer, fahren Zugfahrzeuge mit schweren Raketen auf dem Anhänger, fliegen Hubschrauber und düsen Militärflugzeuge jeder Art durch den blauen Himmel. Dazwischen Schwenks auf die Bühne mit Politikern aus aller Welt, die dem martialischen Geschehen gebannt zuschauen. Was im Express 169 geboten wird, ist die diesjährige Moskauer Siegesparade vom Roten Platz. Sollen da etwa die Russland-kritischen Westukrainer, die wohl die Mehrheit der Passagiere im Zug ausmachen, mit dem Militärspektakel beeindruckt werden? Oder vielleicht gar geärgert?

Wir haben die Worte von Borys Tarasjuk, dem früheren ukrainischen Außenminister und Vorsitzenden der Traditionspartei „Ruch“, noch im Ohr, der wenige Stunden zuvor einer Gruppe von ÖVP-Kommunalpolitikern in einem Kiewer Restaurant erklärt hatte: „Die russische Elite trägt das imperiale Streben wie einen Virus in sich. Die will die Ukraine genauso dominieren wie Weißrussland, sie will uns politisch, wirtschaftlich und kulturell beeinflussen. Die Ukraine soll tun, was der Kreml gerne sieht. Und genau das tut die neue Führung in Kiew unter Viktor Janukowitsch auch.“ Aber wir wollen denn doch nicht annehmen, dass zur neuen Liebdienerei Kiews gegenüber Moskau gehört, Zug fahrende Westukrainer mit Filmen über russische Siegesparaden zu beglücken.

Es ist eine Tatsache, dass die Westukraine aufgrund ihrer spezifischen Geschichte anders tickt als die übrige Ukraine: politisch, religiös, kulturell. Der Blick hier geht nach Westen. Und seit in Kiew zu Beginn des Jahres nach einem mehrjährigen Intermezzo wieder eine politische Seilschaft aus dem Osten das Sagen hat, geht im Westen wieder die Angst um. „Wir haben die Angst in den Genen“, erläutert eine Professorin in Lemberg, „wir haben in der Geschichte einfach zu viel erleben müssen“, sie spielt darauf an, dass von Ost nach West und von West nach Ost über die Jahrhunderte immer wieder Heere durch diesen Landstrich gezogen sind.

Aber wovor haben die Westukrainer heute Angst? Weit und breit sind keine Heere in Sicht, die wieder hier durchziehen und alles verwüsten könnten. In Iwano-Frankiwsk, dem früheren Stanislau, heute verträumte Heimatstadt zahlreicher bedeutender ukrainischer Literaten, zählt ein Regionalpolitiker der Ruch-Partei drei Gefahren auf, die seiner Meinung nach der Westukraine, ja der ganzen Ukraine durch die Politik der neuen Führung in Kiew drohen: „Erstens droht ein Ausverkauf des Landes. In Kiew sind sie dabei, unsere Pipelines, Atomkraftwerke, großen Fabriken, Schwarzmeerhäfen an die Russen zu verscherbeln. Zweitens führen die neuen Machthaber eine Offensive gegen die Demokratie – durch die Marginalisierung des Parlaments und durch Knebelung der Medien. Und drittens bekämpfen sie das Ukrainertum: UnsereGeschichte wird umgeschrieben und erneutaus einer russischenPerspektive verfasst, wo-bei dann herauskommt: Die Ost- und die Südukraine sowie das Zentrum, die bilden die wahre Ukraine, der Westen ist nur ein angeklebter Teil. Dabei war es immer die Westukraine, die das Ukrainertum hochgehalten hat.“

Was ist passiert in Kiew, dass nach den ersten Monaten der Regierung von Viktor Janukowitsch ein derartiger Angstschub die Westukraine erfasst hat? Die zahlreich in Kiew vertretenen Beobachter von westlichen Nichtregierungsorganisationen weisen fast alle aus Anlass der ersten 100 Tage Janukowitsch auf die autoritären Tendenzen der jetzigen Machthaber hin. Eine Analytikerin in Kiew sagt: „Die neue Macht, das sind doch die alten Spieler. Der ,Homo sovieticus‘ uk- rainischer Art ist wieder zurück an den Schalthebeln der Macht, und er regiert wie in längst vergangen geglaubten Zeiten.“

Seit Viktor Janukowitsch am 25. Februar die Präsidentschaft in der Ukraine übernommen hat, ist er mit Feuereifer darangegangen, die Ukraine politisch umzufärben: von Orange, der Farbe der Unterstützer des abgewählten Präsidenten Viktor Juschtschenko, auf Blau, die Farbe der Partei der Regionen von Janukowitsch. Überall im Land wurden blaue Bonzen eingesetzt. Mittels eines Verfassungsbruchs, wie viele in- und ausländische Juristen meinen, wurde im Parlament eine propräsidiale Mehrheit geformt und die streitbare Ministerpräsidentin Julia Timoschenko abgewählt. Dann machte Janukowitsch seinen treuen Gefolgsmann Mykola Asarow zum Premier und ließ ihn eine wahrhaft monströse Regierung zusammenstellen: 29 Kabinettsmitglieder.

Nur noch mit Sarkasmus kann man einige der Minister dieser Regierung zur Kenntnis nehmen. Zum Beispiel Dmitrij Tabachnyk, seines Zeichens Minister für Bildung und Wissenschaft, obwohl ihm die Voraussetzungen für ein solches Schlüsselressort fehlen. Er schaffte es vor allem dadurch zu landesweiter Bekanntheit, dass er mit Genuss über die Landsleute in der Westukraine herzog: „Das sind Lakaien, die gerade erst gelernt haben, sich die Hände zu waschen.“ Die Westukrainer seien bereits viel zu verwestlicht, um wahre Ukrainer zu sein. Nicht genugdamit. Tabachnyk fordert, dass der Zweite Weltkrieg in der Ukraine wieder offiziell wie in der sowjetisch-russischen Interpretation als „Großer Vaterländischer Krieg“ bezeichnet wird und die Schulbücher entsprechend umgeschrieben werden. Er hat nichts dagegen, dass in einer südukrainischen Stadt wieder ein Stalin-Denkmal aufgestellt wird. Folgerichtig sind für ihn die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) und die Organisation Ukrainischer Nationalisten(OUN), die in großenTeilen der westukrainischen Bevölkerung wegen ihres Kampfes gegen die Rote Armee wieder öffentlich verehrt werden, nichts als „Kollaborateure“ (mit Nazideutschland). In Lemberg und in der Studentenschaft in Kiew kam es sofort zu heftigen Protesten gegen den Minister.

Eine genauso umstrittene Figur der blauen Machtmaschine ist Valerij Choroschkowskij. Den früheren Banker, Stahlmanager und Medienmogul hat Janukowitsch ausgerechnet zum Chef des „Sicherheitsdienstes der Ukraine“ (SBU), des Geheimdienstes des Landes, gemacht. Der schickte sofort dem Rektor der Katholischen Universität in Lemberg, Borys Gudziak, seine Agenten in Haus. Sie machten diesen darauf aufmerksam, dass es seine Pflicht sei, seine Studenten vor „möglichen ungesetzlichen Aktionen politischer Art“ zu warnen – sprich: sie von Protesten gegen die Regierung abzuhalten. Er sollte mit seiner Unterschrift bestätigen, dass er diese Warnung des Geheimdienstes zur Kenntnis genommen habe. Der Rektor tat das nicht, machte die Druckausübung öffentlich, Choroschkowskij musste sich entschuldigen.

Von Anfang an knüpfte sich Choroschkowskij regierungskritische Journalisten und Medien vor. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass der Geheimdienstchef der Ukraine gleichzeitig Eigentümer des marktbeherrschenden Medienunternehmens „Inter Media“ ist, an dessen Spitze wiederum seine Frau Olena steht. Choroschkowskij ist zudem Mitglied des Obersten Justizrates des Landes.

Alsbald gab es Klagen von Journalisten, dass sie systematisch ausgehorcht würden, die alte Praxis der von oben erzwungenen Selbstzensur hielt in ukrainischen Redaktionsstuben wieder Einzug. Ein Kiewer Gericht entschied, die unabhängigen TV-Anstalten TV5 und TVi müssten im Jänner erhaltene Sendefrequenzen wieder abgeben. Erwirkt hat den Lizenz-Entzug – erraten: Choroschkowskijs Gruppe „Inter Media“.

„Reporter ohne Grenzen“ ließ im Juni die Alarmglocken schrillen: „Die Unabhängigkeit und Vielfalt der Medien in der Ukraine sind in Gefahr. Die Regierung übt systematisch Zensur aus, Behörden haben Medienmitarbeiter unter Druck gesetzt und versucht, sie einzuschüchtern. Es gab Übergriffe von Polizisten auf Reporter und Festnahmen von Journalisten.“

Janukowitschs großes Projekt für die nächste Zeit ist die Wiedereinführung einer Präsidialherrschaft – mit einer Machtfülle, wie sie der russische Präsident hat. Das Parlament soll, wie in Russland, die Beschlüsse aus dem Präsidentenamt nur noch abnicken, Diskussionen über Gesetze und Verträge sind unerwünscht. Der umstrittene Vertrag mit den Russen vom April über die Verlängerung des Pachtvertrags für die russische Schwarzmeerflotte bis 2042 im Gegenzug für billigere Gaslieferungen wurde im Parlament in Kiew gerade einmal zehn Minuten behandelt, was zu der mittlerweile berühmten Abgeordneten-Saalschlacht mit Eierwürfen und Watschentänzen führte. Ein erster Anlauf zur Wiederherstellung der alten Präsidentenmachtfülle ist zwar im Juli gescheitert, aber schon im September will Janukowitsch einen neuen Anlauf machen.

Hingegen ist von den dringend notwendigen Reformen – im Gesundheitswesen und Pensionssystem, zur Stabilisierung der Staatsfinanzen und Effizienzsteigerung im Energiesektor, zur Dezentralisierung der Verwaltung und Wiederbelebung des Dorfes, zur Förderung der Klein- und Mittelbetriebe und Modernisierung des Bildungs- und Wissenschaftssektors – außer großen Ankündigungen und noch größeren Projektplanungsgruppen wenig bis gar nichts zu vernehmen.

Allerdings: Es ist ganz und gar nicht so, dass eine Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung Janukowitsch und seine blaue Clique wieder zum Teufel wünscht. 65 Prozent der Ukrainer zeigten sich in einer Umfrage im Juni mit seiner Präsidentschaft zufrieden. Das ist nicht wenig, wenn man bedenkt, dass nur ein Drittel der ukrainischen Wählerschaft in der Stichwahl für ihn gestimmt hat. Der Chef des Institutes, das die Umfrage gemacht hatte, Volodymr Fesenko, meint dazu: „Der Präsident will einen Handel mit der Wählerschaft eingehen: Ich mache euren Lebensalltag leichter, und Ihr mischt euch nicht in meine Führung des Landes ein.“ Hinzu kommt: Der ukrainischen Bevölkerung war das endlose Gezänk der abgewählten orangen Machthaber, der Dauerstreit zwischen Präsident Juschtschenko und Ministerpräsidentin Timoschenko, auf die Nerven gegangen. Vor allem in der ukrainischen Jugend hat das Versagen der Orangen zu tiefer Ernüchterung geführt.

Wenn Janukowitsch sich aber weiterhin nur um die Machtsicherung und nicht um die Modernisierung des Landes kümmert, dann könnte es in der Ukraine schon bald wieder eine orange Rebellion geben, einen Aufstand der Zivilgesellschaft. Ein Lemberger Politologe, der sich in der politischen Nachwuchsarbeit engagiert, bringt es auf den Punkt: „Der Kampf um die Zukunft der Ukraine beginnt mit dem Kampf gegen die Politikverdrossenheit der Jungen.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.08.2010)

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