Russland

Deutsche Regierung: Nervengift bei Nawalny nachgewiesen

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Der Verdacht, dem russischen Oppositionspolitiker sei ein chemischer Kampfstoff verabreicht worden, erhärtet sich. Westen schließt Front gegen Russland, Berlin will eine gemeinsame Reaktion.

Bei dem seit Tagen in Deutschland in Behandlung befindlichen russischen Regierungskritiker und Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurde nach Angaben der deutschen Regierung vom Mittwochnachmittag "der zweifelsfreie Nachweis" eines chemischen Kampfstoffes aus der Nowitschok-Gruppe erbracht. Das erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin.

Nowitschok ist ein Nervengift, das schon in unglaublich winzigen Mengen töten oder den Körper zumindest schwer und langfristig beschädigen kann. Solche Substanzen wirken, indem sie die Weitergabe von Impulsen zwischen den Nervenzellen stören und - in der Regel - zu einer Überlastung des Nervensystems und dadurch der Organe führen.

Siehe hier eine ausführliche Geschichte über das Supergift, das in der einstigen Sowjetunion kreiert wurde, als Fortentwicklung früherer Chemikalien bzw. Kampfstoffe mit Wurzeln in Labors in England, den USA und Schweden.

>>> Eine kleine Geschichte eines Supergifts

Festgestellt habe die Nowitschok-Vergiftung ein Speziallabor der Bundeswehr auf Veranlassung des Berliner Krankenhauses Charité, wo Nawalny (44) seit Tagen behandelt wird.

Erinnerung an den Fall Skripal von 2018

In der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde Nowitschok durch einen Giftanschlag im März 2018 in Südengland: Damals wurden der frühere russische Doppelagent Sergei Skripal (*1951) und seine Tochter Julia in der Stadt Salisbury vergiftet; als mutmaßliche Täter gaben die britischen Behörden später namentlich genannte russische Agenten an. Die Causa führte zur massiven Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und westlichen Ländern inklusive vieler Ausweisungen von Diplomaten.

Das Gift dürfte von außen an die Türklinke des Hauses Skripals aufgetragen worden sein und kam auch mit einem Polizisten sowie zwei unbeteiligten Zivilisten in Kontakt; Letztere hatten in einem Abfalleimer in einer Stadt nahe Salisbury ein Parfümfläschchen gefunden, das die Attentäter als Giftversprüher benützt haben dürften und Nowitschokreste enthielt. Eine der Personen, eine Frau Mitte 40, starb dadurch.

Dass Julia Skripal überlebte, ist sicher, sie trat später in Medien auf. Zum Verbleib ihres Vaters gibt es keine klaren Angaben, da die britischen Behörden die Sache als streng geheim behandeln. Er soll im Mai 2018 aus dem Spital entlassen worden sein, aber 2019 einen gesundheitlichen Rückfall erlitten haben. Erst diesen Juni berichteten britische Medien, die Skripals seien im fernen Neuseeland an einem ungenannten Ort und unter fremden Namen angesiedelt worden, was allerdings von neuseeländischen Zeitungen später angezweifelt worden ist.

Beratungen innerhalb von NATO und EU

Seibert sprach von einem "bestürzenden Vorgang": "Die Bundesregierung verurteilt diesen Angriff auf das Schärfste." Die russische Regierung sei "dringlich aufgefordert, sich zu äußern". Die deutsche Regierung werde mit den Partnern in EU und NATO über eine Reaktion beraten. Bundeskanzlerin Angela Merkel habe sich mit Finanzminister Olaf Scholz, Außenminister Heiko Maas, Innenminister Horst Seehofer, Justizministerin Christine Lambrecht, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer sowie dem Chef des Bundeskanzleramts, Helge Braun, zu Mittag beraten und weitere Schritte abgestimmt.

Das deutsche Außenministerium hat am späteren Nachmittag den russischen Botschafter vorgeladen. "Ihm wurde dabei nochmals unmissverständlich die Aufforderung der Bundesregierung übermittelt, die Hintergründe dieser nun nachweislichen Vergiftung von Alexei Nawalny vollumfänglich und mit voller Transparenz aufzuklären", sagte Außenminister Heiko Maas.

Gift im Tee?

Nawalny, ein Anwalt, der sich als Demokrat nationalistischer Prägung sieht und nicht zuletzt durch seinen Kampf gegen Korruption bekannt geworden ist, war am 20. August bei einem Inlandsflug in Russland schlecht geworden; ihn plagten brutale Krämpfe, bald wurde er ohnmächtig und fiel ins Koma. Der Verdacht fiel auf Gift, das ihm jemand in einem Flughafencafé in den Tee getan haben könnte.

Zunächst wurde Nawalny, der aus dem Raum Moskau stammt, in einem Spital in Omsk untersucht, aber auf Drängen seiner Familie und westlicher Politiker nach Berlin ausgeflogen. Die deutschen Ärzte der Charité waren nach einer Auswertung von klinischen Befunden bereits davon ausgegangen, dass Gift im Spiel ist. Die russische Regierung hatte diese Einschätzung als vorschnell bezeichnet.

(APA/DPA/wg)

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