Pfadfinder: Eine Bewegung sucht den Sinn

Pfadfinder Eine Bewegung sucht
Pfadfinder Eine Bewegung sucht(c) APA/ANDREAS PESSENLEHNER (ANDREAS PESSENLEHNER)
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In Laxenburg feiern derzeit rund 7600 Pfadfinder aus 28 Nationen das 100-jährige Jubiläum der Bewegung in Österreich. Hinter den Kulissen durchlebt die größte Jugendorganisation der Welt aber eine Identitätskrise.

Gleichschritt, das war gestern. Wenn heute tausende Pfadfinder zur Eröffnung eines Großlagers strömen, geht es ein bisschen zu wie bei einem Rockfestival. In einem dichten Pulk treiben Jugendliche unter lautem Gejohle, dem Rhythmus von Blechtrommlern und improvisierten Schlachtgesängen in einem babylonischen Sprachengewirr durch die Alleen des Laxenburger Schlossparks auf eine zehn Meter hohe Bühnenkonstruktion zu. Wenig später werden dort eine Videoleinwand und Lautsprecheranlagen die Eröffnungszeremonie bis in die hintersten Reihen des jungen Publikums tragen.

Es sind aber keine Popstars, die die 6600 Teilnehmer – großteils zwischen zehn und 20 Jahre alt – in die Parkanlage knapp südlich von Wien gebracht haben, sondern eine Idee. Das zeigt sich, als der Lagerleiter – ein Altpfadfinder, wie alle Anwesenden mit Uniformhemd und Halstuch adjustiert – die Jugendlichen auffordert: „Now we salute the flag.“ Wer einmal erlebt hat, wie tausende Teenager aus der ganzen Welt plötzlich ganz still werden, den „Pfadfindergruß“, drei ausgestreckte Finger der rechten Hand, zur Schläfe heben und friedlich nebeneinander zusehen, wie die violette Pfadfinderflagge gehisst wird, bekommt eine Ahnung, warum diese Idee mehr als ein Jahrhundert lang Jugendliche bewegt hat.


Zurück zum Ursprung. Aus 28 Nationen kommen die 7600 Menschen – 6600 Teilnehmer plus 1000 ehrenamtliche Mitarbeiter –, die seit Montag in Laxenburg zu dem Großlager „Ursprung 2010“ zusammengekommen sind. Das Motto „Ursprung“ haben die Pfadfinder und Pfadfinderinnen Österreichs (PPÖ), der Dachverband der 85.000 österreichischen Scouts, ausgewählt, weil sie heuer ihr 100-Jahr-Jubiläum zelebrieren: 1910 hat ein engagierter Lehrer in Wiener Neustadt die erste Gruppe des Landes gegründet.

Seither hat sich die Organisation – trotz ihres vollständigen Verbots zwischen 1938 und 1945 – in allen Bundesländern ausgebreitet. In 300 Ortsgruppen kommen ehrenamtliche Jugendleiter dazu Woche für Woche mit Kindern und Jugendlichen in vier Altersstufen von sieben bis 20 Jahren zusammen, um ihnen einerseits die „klassischen Pfadfindertechniken“ beizubringen – etwa wie man Knoten bindet, Erste Hilfe leistet oder sich mit Karte und Kompass orientiert.

Fähigkeiten, die man am Lager nutzen kann: Bund für Bund haben Matthias, ein Tiroler „Explorer“, so heißen in Österreich die 13- bis 16-jährigen Pfadfinder, drei Freunde aus der Gruppe Hall in Tirol gemeinsam mit israelischen, griechischen und italienischen Pfadfindern das Holzgerüst für einen Turm gebunden. Während sie ihn an einem Seil hochziehen, erzählt der 15-Jährige, was ihn am Pfadfindersein fasziniert: „Es macht Spaß, Leute von überall kennenlernen zu können; außerdem ist es etwas anderes als das, was man sonst so macht“, sagt er und deutet nicht ohne Stolz durch den Rauch der umliegenden Kochfeuer auf den Turm, der deutlich aus dem Meer an bunten Zelten hervorragt.

Neben dem Training solcher Fertigkeiten erheben die Pfadfinder auch den Anspruch, Jugendliche zu verantwortungsbewussten, selbstständigen Bürgern zu erziehen. Es ist kein Zufall, dass die grundlegende Schrift des Pfadfindertums, „Scouting for Boys“, den Untertitel „A handbook for instruction in good Citizenship“ trägt: Teamfähigkeit, Eigeninitiative und Kritikfähigkeit gehören ebenso zu den Kenntnissen des idealen Pfadfinders wie Verlässlichkeit, Höflichkeit und Hilfsbereitschaft.

In Laxenburg äußert sich das darin, dass für ältere Lagerteilnehmer die Möglichkeit für Diskussionen mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens besteht: Bundespräsident Heinz Fischer hat sich ebenso angesagt wie Wissenschaftsministerin Beatrix Karl (ÖVP) und Vertreter aller großen Glaubensgemeinschaften. Dabei betonen die PPÖ immer wieder ihre politische (und konfessionelle) Neutralität: Ehemalige Pfadfinder finden sich heute in allen Ecken des politischen Spektrums – von BZÖ-Chef Josef Bucher bis zur Grünen-Jugendsprecherin Tanja Windbüchler-Souschill – sie sagt rückblickend, sie verdanke den Pfadfindern, in die Politik gegangen zu sein.

Ob Robert Baden-Powell, der britische Kriegsheld, der die Pfadfinderbewegung vor 103 Jahren gegründet hat, in den Laxenburger Teilnehmern seine Erben erkennen würde, kann man aber bezweifeln: Der Soldat, der 1907 Erkenntnisse aus seiner Armeekarriere in pädagogische Konzepte umgesetzt hat, legte beispielsweise Wert auf starke Autorität der „Leader“, auf diszipliniertes Auftreten und die einheitliche Uniformierung der Jugendlichen. Dinge, die sich bei den heimischen Pfadfindern in den vergangenen Jahrzehnten massiv geändert haben – nicht zuletzt durch den Einfluss der 68er-Bewegung.

Die klare Hierarchie zwischen Jugendleiter, „Patrullenchef“ (einem Jugendlichen, der zum Teamchef einer Kleingruppe bestimmt oder gewählt wird) und den Jugendlichen ist bei den PPÖ in weiten Teilen etwa einem partnerschaftlich-demokratischen Führungsstil gewichen. Viele Pfadfinder individualisieren ihre Uniform, und quasimilitärische Rituale wie die Flaggenparade zum Tagesbeginn sind vielerorts zur bloßen Hülle verkommen. Kurz: Die Organisation ist seit ihrer Gründung wesentlich lockerer geworden.

„Ich würde nicht allein sagen, die Pfadfinder haben sich verändert – die ganze Gesellschaft hat sich verändert“, sagt Christian Fritz. Der Leiter des Pfadfindermuseums sitzt in einem Zelt im Zentrum des Jubiläumslagers, in dem die gesamte Geschichte der österreichischen Pfadfinder aufbereitet ist: Schwarz-Weiß-Bilder vergangener Lager zeigen Burschen in strammer Habtachtstellung, Mädchen im Uniformrock, alles wirkt geordneter, strenger. „Es geht darum, die richtige Balance zu finden zwischen traditionellen Pfadfinderwerten und den Ansprüchen, denen eine Jugendorganisation heute gerecht werden muss“, erklärt Fritz.


Die Tücken der Tradition. Das könnte sich langfristig als zweischneidiges Schwert erweisen: Denn abgesehen von den Traditionen und Methoden, die der 1942 verstorbene Baden-Powell hinterlassen hat, gibt es nicht viel, was die weltweite Pfadfinderbewegung – sie ist mit 28 Millionen Mitgliedern in 216 Ländern aktiv – zusammenhält.

Weil die nationalen Verbände autonome Organisationen sind, die die Vorgaben des Gründers jede für sich interpretieren, driftet die Weltorganisation immer weiter auseinander. Während sich die polnische Pfadfinderorganisation etwa vergleichsweise strikt an Baden-Powells Regeln hält, gelten Österreichs PPÖ als liberal, was ihre Traditionen angeht. Das hat nicht nur auf internationalen Lagern wie in Laxenburg Auswirkungen, wo die österreichischen Jugendlichen als lockerer Haufen über den Lagerplatz flanieren, während andere in Reih und Glied auftreten.

Auch hinter den Kulissen des Pfadfinder-Weltverbandes in Genf tobt ein kalter Krieg um die künftige Ausrichtung der Jugendorganisation, der Baden-Powells Vision von der grenzüberschreitenden Jugendgemeinschaft auf lange Sicht ins Wanken bringen könnte. 2007 musste Eduardo Missoni, Generalsekretär der Organisation, sein Amt räumen, nachdem mehrere nationale Verbände, darunter die mächtigen Boy Scouts of America, gedroht hatten, ihre Zahlungen an den Weltverband einzufrieren. Der Grund: Missoni wollte dem stetigen Rückgang der Mitgliederzahlen in westlichen Staaten begegnen, indem er dem Pfadfindertum einen stärkeren Fokus auf humanitäre und friedensstiftende Aktivitäten verordnete – was bei den Verbänden, die die Pfadfinderei als Freizeitverein mit Charakterbildungsauftrag ansahen, nicht gut ankam.

Am Lagerplatz in Laxenburg ist von diesen Fragen aber wenig zu spüren: Wo tausende Jugendliche auf einen Fleck kommen, stellen sich keine großen Fragen nach unterschiedlichen Traditionen und Regeln. Leonie, eine 16-jährige Wienerin, kocht hier neben einer griechischen Pfadfindergruppe, während sich daneben österreichische Kinder in brüchigem Englisch auf die Suche nach ausländischen Halstüchern zum Tauschen machen. Hier in Laxenburg scheint Baden-Powells Idee zu funktionieren.
*Der Autor ist seit 20 Jahren Pfadfinder und war in dieser Zeit auch als Jugendführer bei den PPÖ aktiv.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.08.2010)

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