Jederfrau im Dirndl mit Würstel

Jederfrau Dirndl Wuerstel
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360 Grad Österreich: Die Salzburger Festspiele bringen Hochkultur, internationales Flair und möglicherweise John Grisham in eine kleine Provinzstadt.

Wenn man die ehrlichen, die gradlinigen Kritiken zu den Darbietungen bei den Salzburger Festspielen hören will, dann muss man am Samstag auf den Grünmarkt gehen– gegen elf Uhr, nachdem sich die noblen Damen der Gesellschaft, die an diesem Tag Hausfrauen spielen, mit Tomaten, Salat und Äpfeln eingedeckt haben. Dann trifft man sie beim Würstelstand beim Universitätsplatz, die Käsekrainer um 2,80 Euro, die sie eingewickelt in eine Serviette mit der Hand essen, während sie über das plaudern, was sie am Vorabend gehört haben oder was man heute sehen wird.

„Der Kissin war recht inspirierend“, urteilt eine im Dirndl über den Auftritt des Ausnahmepianisten Evgeny Kissin. „Aber ein paar Mal hat er schon gepatzt“, wirft eine andere ein, bevor sie wieder in die Käsekrainer beißt. Sie bringt es knapp auf den Punkt. Die Kritiker schreiben am nächsten Tag vorsichtig von „Formschwankungen“ und „Konzentrationsmängeln“.

Und auch die Frage, die nur gefestigte Intellektuelle nach manchen Aufführungen zu stellen wagen, hört man hier: Was soll das? „A ziemlicher Schmarrn“, urteilt eine Dame knapp über „Dionysos“. Nur der „Jedermann“ kommt gut weg, dieses mittelmäßige Stück, mit dem man es seit mittlerweile 90 Jahren wagt, die Festspiele zu eröffnen. Wobei die Geschichte vom gierigen Reichen gerade jetzt die Zeit und ihren Geist trifft.


„Nicht für mich.“ Salzburg zur Festspielzeit. Das ist Noblesse und Hochkultur, und natürlich ist es Salzburg. Manche meinen ja, Salzburg zur Festspielzeit sei nicht Salzburg. Dabei ist es gerade dann Salzburg. Zu jeder anderen Zeit im Jahr könnte es auch Innsbruck oder Graz oder selbst St.Pölten sein. Nur im Sommer, in den paar Wochen im Juli und August, ist Salzburg wirklich Salzburg.

Nicht unbedingt für die, die dort leben – stimmt schon. Die Salzburger meiden im Sommer die Altstadt wie zwangsläufig die ausländischen Autofahrer, die seit der „Schlechtwetterverordnung“ bei Regen nicht mehr in die Stadt einfahren dürfen. Ein Gang durch die Getreidegasse ist Strafverschärfung für jeden, der zu einem Punkt B will. Die Menschenmassen drängen sich sogar durch die schmalen, versteckten Durchgänge, die ein Ortskundiger als Abkürzung nimmt, und manchmal steht man tatsächlich auf der Fußgängerbrücke über die Salzach im Stau und kommt nicht weiter.

Die Getreidegasse wäre ja eine eigene Geschichte. In den 1980er-Jahren gab es noch einen halben Volksaufstand, als McDonald's in die historische Straße kam. Mittlerweile nimmt man den Fast-Food-Laden zur Kenntnis wie den Umstand, dass immer mehr alteingesessene Familienbetriebe internationalen Ketten weichen. Die passen zwar nicht in die romantische Straße, in der einst der kleine Mozart spielte, aber dafür bringen sie Kunden und garantieren einen nie abreißenden Besucherstrom.

Noch ein Wort zu den Verkäufern in Salzburg. Man würde verstehen, schöben die im Sommer einen Grant wie Jedermann, wenn er auf seinen Schuldner trifft. Aber das tun sie nicht. Im „Trachtenhaus“, wo frau sich die inoffizielle Festspiel-Uniform, das Dirndl, kauft, kann man mit den Verkäuferinnnen noch über die Fantasietrachten scherzen, die die weiblichen Besucher ausführen. Und mit Augenzwinkern weist die hörbar deutsche Verkäuferin auf ihre Kleidung: Das sei die Originaltracht „meiner Heimat“, von Aussee. So locker sind viele Wiener Verkäufer nicht einmal im Winter.

Zu den Festspielen geht diese Dame in ihrer Ausseer-Tracht nicht. Nicht, weil es sie nicht interessiert: „Es fehlt die Zeit.“ Dass die Festspiele „nicht für mich sind“, erklärt eine andere Salzburgerin, die seit 30 Jahren in der Stadt lebt und noch nie eine Aufführung sah. Mit „nicht für mich“ meint sie nicht eine kulturelle Hürde, sondern eine gesellschaftliche: Die Festspiele seien für die „Besseren“. Für die, die im Audi vom Attersee in die Altstadtgarage fahren oder sich im Goldenen Hirschen einquartieren. Man sieht das Geld zu Hauf in diesen Tagen. Im „Carpe Diem“ etwa, wo man Rehrücken und Jakobsmuscheln reicht und mit dem Kaviar auf der Speisekarte interessante Rätsel aufgibt zum Lokalmotto „Finest Fingerfood“.


Promis-Schauen in der Hofstallgasse. Ja, meint eine andere Salzburgerin, früher seien die Festspiele wirklich nicht für die Massen gewesen. Sind sie immer noch nicht, aber mit Gerard Mortier ist etwas mehr Egalität eingezogen. Seit seiner Intendanz zur Jahrtausendwende sind es immer mehr auch Festspiele für jedermann geworden.

Wie etwa für die rührige, 90-jährige Dame, die halbblind beim Kissin-Konzert in der ersten Reihe sitzt. Für beide Auftritte hat sich die ehemalige Klavierlehrerin die besten Plätze gesichert. „Wissen S'“, erklärt sie, „ich bekomm a bissl a Geld, weil ich fast nichts mehr seh. Und damit leiste ich mir das, sonst könnt ich's eh nicht.“ Nie war man williger, seine Sozialabgaben zu bezahlen.

Noch immer stehen viele an den Abenden in der Hofstallgasse hinter den Absperrgittern und schauen, wer wie gekleidet zu den Aufführungen ins Große Festspielhaus kommt. Wobei sich die High Society mittlerweile auch nicht mehr so zur Schau trägt wie einst. Die Gesellschaft lässt ihre Feste nicht mehr breit publizieren, sondern bittet die Fotografen nach zehn, 15 Minuten höflich aus dem Saal. Man will unter sich sein. Sogar die legendäre Fürstin Sayn-Wittgenstein-Sayn lud heuer zum letzten Mal mit handgeschriebenen Einladungen zu ihren traditionellen Sonntagsfesten, die eines der Highlights der Festspiele waren. Jetzt kommen nur noch abends spontan ein paar Freunde vorbei – so 20 oder 30.

In der Altstadt verdrängen mittlerweile Smokings und Dirndl die T-Shirts und kurzen Hosen. Der Abend naht, und damit atmet die Stadt wieder Kultur und internationales Flair. Auch John Grisham weilt in Salzburg und stöbert kurz vor Geschäftsschluss im „Höllrigl“ in der Englisch-Buchabteilung. Vielleicht war er es auch gar nicht, aber er hätte es durchaus sein können – und allein das ist schon etwas für eine österreichische Provinzstadt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.08.2010)

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