Wie in früheren Fällen kann der Westen nicht auf vernünftige Antworten hoffen. Der Kreml schiebt die Verantwortung von sich.
Moskau. Aufklärung aus Moskau – das erwartet sich die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, im Fall Nawalny. Der Oppositionspolitiker wurde mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet, wie Merkel am Mittwoch bekannt gab. Es stellten sich jetzt „sehr schwerwiegende Fragen“, die nur die russische Regierung beantworten könne, sagte sie. Von den Antworten würde eine gemeinsame Reaktion der EU und der Nato-Partner abhängen.
Doch die Chancen sind gering, dass der Westen eine zufriedenstellende Antwort auf seine Fragen bekommen wird. Warum? Eine Aufklärung des Falls ist nicht im Interesse Moskaus. Der Einsatz von Nowitschok deutet auf eine Verwicklung staatlicher Strukturen hin. Dass der russische Staat Zivilisten mit einem verbotenen militärischen Kampfstoff umzubringen versucht, wird Präsident Wladimir Putin nicht eingestehen. Denn es würde bestätigen, was seine Kritiker seit Jahr und Tag sagen: dass sein System kriminell ist und man sich mit ihm nicht einlassen darf.
Der Kreml hat auch bisher Tatverdächtige aus den Reihen der Geheimdienste geschützt oder deren Taten implizit verteidigt. Erinnert sei an Putins Aussage, dass „Verräter“ Bestrafung verdienten. Das war auf den Agenten-Überläufer Sergej Skripal gemünzt. Nun wurde auf den Zivilisten Alexej Nawalny ein Mordanschlag verübt. Wurde die Attacke mit Putins Zustimmung ausgeführt, fehlt das Interesse an einer Aufklärung gänzlich. Passierte sie ohne das Wissen des Kreml-Chefs, würde das bedeuten, dass Putin die Geheimdienste nicht unter Kontrolle hat. Das wäre besorgniserregend und zudem blamabel.
Dreiste Desinformation
Schon an der bisherigen Handhabung des Falls war zu sehen, dass Moskau eine Aufklärung zu sabotieren suchte. Die Wahrheit über den Giftanschlag soll in einem Dickicht aus Pseudoaktivität, Beschuldigungen und Verwirrung versanden. Und diese Strategie verfolgt man weiterhin, trotz (oder gerade wegen) des Nowitschok-Nachweises. So wie in früheren Desinformationskampagnen leugnet man dreist Fakten. Verdreht sie. Lenkt von ihnen ab. Sät Zweifel.
Dabei spielen die Behörden mit verteilten Rollen. Der Kreml betonte auch am Donnerstag seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Nicht ohne anzufügen, dass man freilich aus Berlin zuerst die Beantwortung einer Anfrage der russischen Staatsanwaltschaft erwarte. „Ohne diese Resultate können wir keine Einschätzung abgeben“, sagte Sprecher Dmitrij Peskow. Es bestehe ein „Informationsdefizit“. Das ist eine Art diplomatische Täter-Opfer-Umkehr. Erklärungsbedarf hat immer der andere. Nicht Moskau müsse Rechenschaft ablegen, sondern Berlin.
Während Putin sich also vermeintlich kooperationsbereit gibt, übernimmt das Außenministerium einmal mehr die unrühmliche Rolle des Bluthundes. Außenamts-Sprecherin Maria Sacharowa zog in aggressivem Ton gegen eine angebliche Politisierung des Falls durch Berlin zu Felde. „Was hat hier die Politik zu suchen? Was hat hier die deutsche Führung zu suchen?“ Dabei hatte bekanntlich ein deutsches Labor die Diagnose gestellt. Der Westen wird nicht zum ersten Mal der „Megafon-Diplomatie“ beschuldigt. Dieser Vorwurf kommt dann, wenn Moskau eine Sache unter den Teppich kehren will.
Parallel dazu verbreiten Massenmedien alternative und teils haarsträubende Theorien über Nawalnys Gesundheitszustand. Doch auch hier gilt: Keine Mutmaßung ist zu abwegig, wenn sie nur Raum für Spekulationen schafft. So sollen das heimische Publikum und Teile der internationalen Öffentlichkeit davon überzeugt werden, dass abermals eine Verschwörung des Westens gegen Russland im Gang ist. Wie im Fall Skripal oder beim MH17-Abschuss werden immer wieder neue Erkenntnisse präsentiert. So erklärte ein Experte des russischen Gesundheitsministeriums, es passiere „nicht so selten“, dass Menschen einfach so ins Koma fielen.