Gerettete Migranten an Bord des NGO-Schiffes Louise Michel, das vom Streetart-Künstler Banksy gesponsert wird.
Reportage

„Junge Menschen sind wütend auf Flüchtlinge“

Seit zwei Monaten spitzt sich die Lage der Flüchtlinge auf Lampedusa zu, zuletzt drohte der Bürgermeister mit einem Generalstreik. Nun kündigte die Regierung an, das überfüllte Erstaufnahmezentrum räumen zu wollen. Ein Lokalaugenschein.

Migrants arrive on Lampedusa Island
Migrants arrive on Lampedusa Island(c) REUTERS (MAURO BUCCARELLO)

Lampedusa. Ein Mann mit nacktem Oberkörper huscht gebückt durch die ausgedörrten Büsche neben der Straße. Etwas weiter verschwindet ein anderer hinter mannshohen Kakteen. Beide bewegen sich trotz Plastikpatschen an ihren Füßen schnell und sicher durchs Gestrüpp. Immer wieder halten sie an und versichern sich, dass niemand ihnen folgt. Doch die Luft ist rein, ihre Flucht unbemerkt.

Diese Szene stammt nicht aus einem Krimi, sondern spielt sich beinahe täglich auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa ab. Die Männer sind tunesische Migranten, die gerade aus dem Erstaufnahmezentrum für Flüchtlinge abgehauen sind, das sie wegen der Corona-Auflagen eigentlich nicht verlassen dürfen. Der „Hotspot“ liegt ein paar Hundert Meter weiter am Ende der Straße hinter einem Drahtzaun und wird vom italienischen Militär bewacht.

Doch nun sind sie draußen – eine kleine Freiheit auf der 20 km2 großen Insel, die sie wohl nutzen wollen, um Essen zu kaufen. Und so spielt sich die Flucht auch nicht im schützenden Dunkel der Nacht ab, sondern vormittags. Ein starker Wind weht über die Insel, der für unbeständiges Wetter sorgt und Lampedusa eine Atempause verschafft: Bei starkem Seegang stechen keine Flüchtlingsboote von der tunesischen Küste aus in See, und so wird der beständige Strom an Migranten unterbrochen, der seit Wochen anhält.

Krise in Tunesien

Lampedusa ist der südlichste Außenposten Italiens – keine 140 Kilometer trennen hier den europäischen vom afrikanischen Kontinent – und daher das Ziel vieler Flüchtlingsboote. Das allein ist keine Neuigkeit, doch wegen politischer Instabilität und einer Wirtschaftskrise in Tunesien haben sich mit 12.389 Menschen im Juli und August so viele Flüchtlinge wie seit drei Jahren nicht mehr auf den Weg nach Italien gemacht.

Zwar liegen diese Zahlen noch weit unter jenen vor fünf Jahren, und nicht alle kommen auf Lampedusa an. Doch auf der kleinen Insel zeigt sich dieser Tage beispielhaft, wie überfordert Italien von den Migrationsströmen ist, weil diese innenpolitisch stark instrumentalisiert werden, und wie sehr Europa seinen Mitgliedstaat mit dem Problem alleinlässt.

Die Männer haben sich mittlerweile aus dem Dickicht des Straßengrabens befreit. Die Straße hat einige Biegungen vollzogen, der Hotspot liegt außer Sichtweite und sie haben die Böschung erklommen. Hintereinander gehen sie schnell über den Asphalt, in ihren Armbeugen tragen sie OP-Masken. Das Aufnahmecamp, das sie in ihrem Rücken lassen, ist seit Wochen überbelegt. Es bietet Platz für 190 Personen, aktuell befinden sich über 1100 Menschen dort. Der Zutritt ist verboten. Doch wer sich dem Tor nähert, bekommt einen Eindruck von den Zuständen: Hinter den zwei Militärs, die den Zugang bewachen, sitzen und liegen Menschen dicht nebeneinander am Straßenrand.

Bereits Ende Juli verhängte Bürgermeister Totò Martello den Ausnahmezustand über seine Insel, weil die Bedingungen im Hotspot aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr tragbar waren. Dann erreichten am Wochenende in 48 Stunden 38 kleine Flüchtlingsboote und ein Fischkutter mit 370 Migranten an Bord die Insel, und Martello schlug Alarm. Diesmal wählte er die maximale Eskalationsstufe und erklärte, Lampedusa würde in einen Generalstreik treten, wenn die Regierung nicht aktiv werden würde. Sein Hilferuf wurde erhört. Erstmals lud Premier Giuseppe Conte Martello nach Rom ein und kündigte an, den Hotspot bis zum Wochenende zu räumen und Flüchtlinge auf Quarantäneschiffe zu verlegen – wieder nur eine temporäre Lösung.

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