In Elena Ferrantes jüngstem Roman kommt einem so einiges bekannt vor, die „geniale Freundin“ lässt grüßen. Deshalb weiß das Buch wohl auch zu betören.
Die Zeitung „Libero“ war von Elena Ferrantes jüngstem Roman „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ begeistert. Er lasse einen glatt Lila und Lenù vergessen, die beiden ebenso ungleichen wie unzertrennlichen Gefährtinnen aus Ferrantes erfolgreicher Quadrologie. Da das Wesen eines Buchs aber letzten Endes im Auge des Lesenden liegt, kann man auch zu einem ganz anderen Schluss kommen: Es ist ein Wiedersehen mit dem Neapel, wie man es aus Ferrantes „genialer Freundin“ kennt und liebt. Und deshalb weiß der gut gelungene Roman wohl auch zu betören.
Die 13-jährige Giovanna ist eine Tochter aus gutem Haus, ihre Eltern sind Intellektuelle. Giovannas sichere Welt gerät ins Wanken, als sie überhört, wie ihr Vater sie mit Vittoria vergleicht, seiner ihm verhassten, halbverrückten Schwester aus den neapolitanischen Slums. Als er dann auch noch die Familie verlässt und zu seiner langjährigen Freundin zieht, geht das Mädchen schulisch und sexuell in den freien Fall über, angeheizt durch die Pubertät. Dieser Fall wird erst gebremst, als sie auf Roberto trifft, einen zehn Jahre älteren, charismatischen katholischen Denker.
Elena Ferrante ist ein Roman geglückt, den ihre Fans in Erinnerung an die „geniale Freundin“ lieben werden. Auch die Personen sind vertraut: Giovanna hat viel von Lenù, die rabiate Vittoria könnte eine ältere Ausgabe von Lila sein, auch den Männerschlag „gescheit, aber unverlässlich“ kennt man. Großes Lesevergnügen mit Nostalgiefaktor.
Elena Ferrante: „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“, üb. v. K. Krieger, Suhrkamp, 415 S., 24,90 €
("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2020)