Kolumne zum Tag

Schüchternes Plädoyer für das "Sowohl als auch"

Was, wenn die Welt nicht nur aus Schwarz und Weiß, Richtig und Falsch, Gut und Böse, null und eins bestünde?

Was wäre, wenn wir alle auf der falschen Spur wären? Wir, also all diejenigen, die sich animiert fühlen, einen Standpunkt zu diesem oder jenem einzunehmen, weil sie jene Sicherheit sich erhoffen, die ihnen so ein fester Fleck im wirren Treiben der Welt zu verschaffen verheißt. Hier steht man dann und kann nicht anders denken über Klimawandel, Corona, die jungen Leute von heute, Staatsfinanzen, den Feminismus und sonst noch ganze Wälder von Reibebäumen.

Aber, noch einmal: Was, wenn die Welt nicht nur als Schwarz und Weiß, Richtig und Falsch, Gut und Böse, null und eins bestünde? Ich dachte mir das neulich zu zwei Anlässen. Zuerst verstrickten wir uns im Urlaub mit unserer langjährigen korsischen Vermieterin in eine Debatte über den mangelnden Respekt des Pariser Machtzentrums für die Regionen. Die Gironde hätte über die Jakobiner siegen müssen, klagte sie, dann wäre Frankreich ein glücklicherer Ort. Eifrig nickte ich. Doch als sie begann, Präsident Macron als Handpuppe der Banken zu denunzieren, musste ich zart widersprechen: Der repräsentiert das abgehobene Pariser Establishment auf bisweilen ziemlich ungute Weise, ein Werkzeug verborgener Mächte ist er aber ziemlich sicher nicht.

Ein bisschen später stieß ich auf einen sehr interessanten Bericht einer Journalistin der Nachrichtenagentur Agence-France Presse. Sie volontierte im vorigen Jahr in einer, wie man so sagt, Problemschule. Viele der Schüler lehnten das Recht auf Blasphemie ab, und befürworteten Strafen für Gotteslästerer. Doch es gelang ihr, die erhitzte Debatte abzukühlen, mit dem einleuchtenden Argument: man kann sich als Muslim durch eine Mohammed-Karikatur beleidigt fühlen – und gleichzeitig das Recht auf Blasphemie akzeptieren. Natürlich hat sich unter ihren Schülern nicht spontan Frieden, Freude und Eierkuchen verbreitet wie in Lessings Ringparabel. Aber zumindest haben sie gelernt, dass man die Dinge auch anders sehen kann. Das zu beherzigen würde uns allen gut tun.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

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