Die britische Regierung macht ihre Drohung wahr und bricht mit ihrem neuen Binnenmarkt-Gesetz den vor nicht einmal einem Jahr geschlossenen Vertrag über den EU-Austritt.
London/Brüssel. „Pacta sunt servanda“ – diese altrömische Botschaft richtete Ursula von der Leyen Mittwochnachmittag an den britischen Premierminister, Boris Johnson, der bekanntlich mit seinen in Eton und Oxford erworbenen Lateinkenntnissen nicht hinter dem Berg hält. Der Pakt, dessen Treue die Präsidentin der EU-Kommission gestern einmahnte, ist das Austrittsabkommen, das Großbritannien und die EU vor nicht einmal einem Jahr unterzeichnet hatten – konkret das Nordirland-Protokoll des Brexit-Vertrags, das dafür sorgen soll, dass die Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland in jedem Fall offen bleibt. Auch die deutsche Regierung, die momentan den EU-Ratsvorsitz innehat, schaltete sich ein: „Das Austrittsabkommen ist bindend“, sagte eine Sprecherin von Kanzlerin Angela Merkel.
Den Interventionen in Brüssel und Berlin ging die Veröffentlichung des Entwurfs einer Gesetzesnovelle zur Regulierung des Binnenmarkts des Vereinigten Königreichs voraus. Und dieser Entwurf hat das Zeug dazu, die Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien über ihr künftiges Verhältnis zu sprengen. Artikel 45 Abs. 2 (a) des Gesetzes eröffnet einen Blick darauf, was die britische Regierung angesichts ihrer offensichtlichen Probleme mit der Implementierung des Austrittsabkommens zu tun gedenkt: Verordnungen werden demnach selbst im Falle einer „Inkompatibilität mit geltenden internationalen oder nationalen Gesetzen“ nicht als gesetzeswidrig betrachtet, heißt es darin. Anders ausgedrückt: Der Passus soll es der Regierung ermöglichen, sich bei der Regelung des britischen Binnenmarkts notfalls über geltendes britisches Recht und die gegenüber der EU gemachten Zusagen hinwegzusetzen.
Mit der Gesetzesvorlage, die Johnson gestern als vernünftig und maßvoll verteidigte, riskiert der Premierminister den harten Bruch mit dem Binnenmarkt der Union zum Jahresende, wenn die elfmonatige Übergangsfrist nach dem am 31. Jänner vollzogenen EU-Austritt zu Ende geht. Denn die Infragestellung bereits gemachter Zusagen macht es für Michel Barnier, der diese Woche in London weilt, unmöglich, seiner Aufgabe als EU-Chefverhandler nachzukommen.