Brüssel überlegt rechtliche Schritte, nachdem London das Austrittsabkommen in wichtigen Punkten für obsolet erklärt hat. Doch an ein Einlenken der Briten ist nicht zu denken.
London. Und wieder eilte ein Tross unter dem Ärmelkanal durch zu Krisengesprächen in der unendlichen Geschichte des britischen Ausscheidens aus der EU. Diesmal war es eine EU-Delegation, geführt von Kommissionsvizepräsident Maroš Šefčovič, die gestern, Donnerstag, in London „ernste Sorge“ über die jüngsten britischen Schritte zum Ausdruck brachte. Dabei machte Šefčovič nicht nur klar, dass das Brexit-Abkommen vom vergangenen Oktober „nicht verhandelbar“ sei, sondern winkte dem zuständigen britischen Minister, Michael Gove, auch heftig mit dem sprichwörtlichen Zaunpfahl: „Rechtliche Schritte“ würden bereits erwogen.
Auslöser der Krise ist der britische Versuch, das vereinbarte Austrittsabkommen durch ein nationales Gesetz in entscheidenden Teilen auszuhebeln. Damit würde die Verpflichtung zur Güterkontrolle zwischen der Provinz Nordirland, die teilweise im EU-Binnenmarkt bleibt, und dem restlichen Großbritannien, das die EU zur Gänze verlässt, beiseitegeschoben. Selbst der britische Nordirlandminister, Brandon Lewis, musste einräumen, dass das Gesetz in „bestimmter und eingeschränkter Form das Völkerrecht verletzt“. Doch auch ein Aufschrei der Empörung vonseiten der EU ebenso wie von Kritikern im Inland hielt Premierminister Boris Johnson nicht davon ab, den umstrittenen Entwurf am Mittwoch im Parlament einzubringen.
Die EU-Kommission, so verlautete man gestern in Brüssel, wolle den Gesetzestext nun „sehr genau prüfen“ und nach der erwarteten Verabschiedung über weitere Schritte entscheiden. Von einem völligen Zusammenbruch der stockenden Verhandlungen über einen Handelsvertrag ab dem kommenden Jahr bis hin zur Einschaltung der internationalen Gerichte war die Rede: „Wir haben einen Mechanismus dafür“, hieß es von EU-Diplomaten.
Ob sich London freilich daran halten und eine Entscheidung zu seinen Ungunsten akzeptieren würde, ist fraglicher denn je. Außer schönen Worten, die kaum einer so wohlfeil zu spenden weiß wie Minister Gove, war die britische Regierung offensichtlich zu keinerlei Zugeständnissen bereit. Eine Rücknahme des umstrittenen Gesetzes wurde nicht erwogen.
Diese Beharrlichkeit wird nicht folgenlos bleiben. Der frühere konservative Premierminister John Major fürchtet einen großen Imageschaden für das Königreich: „Wenn wir unseren Ruf verletzen, dass wir immer unsere Versprechen halten, werden wir etwas Unbezahlbares und möglicherweise Unwiederbringliches verlieren.“
Sollte die britische Führung darauf hoffen, ihren Crashkurs gegenüber der EU durch ein Abkommen mit den USA kompensieren zu können, wurde dies bereits enttäuscht: „Unter keinen Umständen“ werde Washington mit London ein Abkommen schließen, wenn der Friede in Nordirland nicht garantiert sei, sagte die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi. (gar)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.09.2020)